ArbeitsorganisationWas Unternehmen vom Broadway lernen können
„Phantasie ist wichtiger als Wissen – denn Wissen ist begrenzt“, soll Albert Einstein geantwortet haben, als man ihn fragte, wie er die Relativitätstheorie „entdeckt“ habe. Für die Wirtschaft war diese Erkenntnis lange Zeit jedoch weniger bedeutsam als die Arbeiten von Frederick Winslow Taylor, der als einer der Begründer der Arbeitswissenschaft gilt. In Zeit- und Arbeitsstudien zerlegte er Tätigkeiten in möglichst kleine, geplante Arbeitsschritte, die von angelernten Arbeitern ohne Ausbildung oder Vorkenntnisse schnell erlernt und effizient ausgeführt werden konnten. Sein Hang zum Experimentieren und Analysieren gipfelte in dem Anspruch, für jede menschliche Tätigkeit die „allein richtige Bewegungsfolge“ zu ermitteln.
Auch Wissensarbeiter sind von Rationalisierung bedroht
Heute dürfte es schwer sein, derart strukturierbare Tätigkeiten zu finden, die nicht schon längst von Maschinen oder IT-Systemen ausgeführt werden. Aber auch sogenannte Wissensarbeiter, die sich lange Zeit sicher vor Automation und Rationalisierung wähnten, leben in Zeiten von Big Data und lernenden Algorithmen in keinem geschützten Biotop. So zitierten die VDI-Nachrichten im Oktober 2014 mit dem Titel „Der digitalen Gesellschaft geht die Arbeit aus“ eine Studie des IT-Analysten Gartner, wonach Assistenz- und Sachbearbeiter-Jobs – später auch Manager- und Referentenjobs – obsolet werden könnten, wenn die großen Wirtschaftsnationen und -unternehmen zukünftig nicht mehr Flexibilität bei der Einführung fundamental neuer Strukturen zeigten.
Nach Taylors Tod sollte es noch fast neun Monate dauern, bis Einstein die allgemeine Relativitätstheorie „gebar“ und vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften vorstellte. Seine eingangs zitierte Erkenntnis brauchte jedoch deutlich länger als Taylors Gedankengut, um in der Wirtschaftsrealität anzukommen: Der US-amerikanische Ökonom Richard Florida versteht sein Buch „Rise of the creative class“ als Antwort auf die Frage, wie Unternehmen, Communities und Menschen in unsicheren Zeiten überleben und sich weiterentwickeln können. Jede Diskussion über Kreativität und wirtschaftlichen Erfolg müsse das Konzept der „kreativen Klasse“ berücksichtigen: geteilte Werte, Vielfalt der Lebensentwürfe, Bedeutung persönlicher Beziehungen sowie individuelle Präferenzen hinsichtlich Raum- und Zeitnutzung. Kurz: Sehr weit entfernt von Taylors „one best way“.
Nachteile klassischer Teamkonzepte
Wie werden erfolgreiche High-Performance-Teams in der heutigen Unternehmenswirklichkeit definiert? Oft genug als langfristige Verbündete, die sich entlang von Forming-, Norming- und Storming-Phasen finden und eine individuelle Hackordnung aushandeln müssen, um dann idealerweise auch zu „performen“. Da kann es schon mal 100 Tage oder mehr dauern, bis die dann ausgehandelte Team-Hierarchie möglichst lang vorhersehbare Ergebnisse liefert – sofern das System nicht wieder neue Mitglieder aufnimmt und das Spiel von Neuem beginnt.
Brian Uzzi und Jarret Spiro weisen in ihrem Artikel „Collaboration and Creativity“ nach, dass dieses bis heute noch (zu) weit verbreitete Paradigma wirtschaftlichen Erfolg nicht unbedingt fördert. Ausgehend von der Beobachtung in besonders innovativen Unternehmen prüften die Autoren, ob die besten Teams tatsächlich auf Zeit angelegt sind: mit möglichst klaren Zielen und verbindlichen Lieferterminen. Für den empirischen Nachweis wählten sie den Broadway. Ein Umfeld, das traditionell durch enge Deadlines, gegensätzliche, starke Charaktere und die Notwendigkeit geprägt ist, außergewöhnlich kreativ sein zu müssen.
Erfolgreiche Teams sind bunt gemischt
Um ein Musical erfolgreich auf die Bühne zu bringen, braucht es ein großes Team, und die meisten Akteure arbeiten in mehr als einer Produktion mit. Um zu erfahren, ob eher dauerhafte, starke oder temporäre Beziehungen den wirtschaftlichen Erfolg der jeweiligen Show beeinflussen, analysierten Uzzi und Spiro 474 Musicals mit 2.092 Künstlern im Zeitraum 1945 bis 1989. Das Ergebnis ihres „Small World Index“: Die erfolgreichsten Teams hatten einen guten Mix von erfahrenen Kollegen sowie neuen Teammitgliedern, die der Show neue kreative Impulse gaben. Für einen Zusammenhang im Sinne von „je mehr Teammitglieder schon oft miteinander gearbeitet hatten, desto höher der Erfolg“, fanden sie hingegen keine signifikante Korrelation.
Diese Erkenntnisse spiegeln sich auch in den Kernthesen von Sven Gábor Jánszki, dem „deutschen Richard Florida“ wieder. In seinem Buch „2025 – So arbeiten wir in Zukunft“ schreibt er:
Nur noch 20 Prozent der Beschäftigten werden eine Festanstellung haben.
40 Prozent werden weitestgehend selbständig arbeiten.
Weitere 40 Prozent werden als Projektarbeiter temporär in wechselnden Teams an unterschiedlichen Standorten aufgabenbezogen für zirka zwei bis drei Jahre bis zum jeweiligen Projektende zusammenarbeiten.
Arbeit läuft künftig in Projekten ab
Flexibilität in der Arbeitswelt und bei den Anforderungen führen demnach dazu, dass Entwicklungspfade von Erwerbstätigen nicht mehr in Unternehmen, sondern entlang der persönlichen Kernkompetenzen verlaufen werden, die es jeweils selbst zu erkennen und zu entwickeln gilt. Aus Unternehmenssicht kommt der „geschrumpften“ Kernmannschaft eine wichtige, identitätsstiftende Rolle zu: Sie kennt „Zielbild“ und Prozesse des Unternehmens, prägt damit die Marke, und macht so das Unternehmen am Markt bekannt und von Wettbewerbern unterscheidbar. Nach Jánszki sind diese Szenarien nicht nur realistisch, sondern in ihrer Wirkung überwiegend positiv.
Für Unternehmen heißt das konkret: Unternehmensstrukturen haben keine festen Grenzen mehr, sondern bauen ihre Arbeitsorganisation zunehmend auf das Zusammenwirken von Projektarbeitern. Damit werden die Unternehmen einerseits „größer“, weil die vielen Teile der Wertschöpfungskette zusammenrücken und unternehmensübergreifend in Kooperationen und mittels externer Dienstleister integriert werden. Andererseits werden Unternehmen „kleiner“, weil die Arbeit dezentraler in kleinen Teams und Projekten organisiert wird. Das Zukunftsbild sind viele einzelne, dezentrale Netze, die in einem großen Netzwerk verbunden sind. Damit finden Unternehmen schneller die richtigen Mitarbeiter zur richtigen Zeit am richtigen Ort und können so flexibler auf sich schneller verändernde Anforderungen reagieren.
Erwerbsbiografien von Mitarbeitern werden sich ändern
Für Erwerbstätige heißt die beschriebene Entwicklung: Mitarbeiter werden eine deutlich höhere Eigenverantwortung und völlig neue Erwerbsbiografien entwickeln (müssen). Diese werden nicht mehr nur durch Partner, Kinder und Wohnorte geprägt, sondern mindestens in gleichem Maße auch durch Tätigkeiten, Projekte und dabei entstehende Spezialisten-Netzwerke. Die wichtigsten Entscheidungskriterien von Projektarbeitern für oder gegen die Mitarbeit in einem Unternehmen lauten deshalb:
- Ist das Projekt eine persönliche Herausforderung?
Macht das Projekt Sinn für die Weiterentwicklung meiner Kompetenzen?
Arbeite ich im Projekt mit exzellenten Menschen zusammen?
Dieses Zukunftsbild ist eine Herausforderung – für Unternehmen und Mitarbeiter gleichermaßen. Ist es aber auch realistisch, erstrebenswert und die Anstrengung wert? Schlussendlich muss das jeder Mitarbeiter, jedes Unternehmen und jede Gesellschaft für sich und seine Zukunft selbst bewerten.
Die demografischen Fakten
Tatsache jedoch ist, dass die erwerbstätige Bevölkerung in Deutschland bereits in den nächsten zehn Jahren deutlich schrumpfen wird. Jánszky zitiert Statistiken, wonach bis 2025 6,5 Millionen Menschen mehr in Rente gehen als junge Menschen ins Berufsleben eintreten. Vorausgesetzt, Deutschland würde sich abschotten, keine Einwanderer mehr ins Land lassen, das Renteneintrittsalter auf 63 Jahre festschreiben und das Erziehungsgeld ausbauen, um die Rückkehr qualifizierter Mütter in den Beruf zu behindern. Aber selbst wenn dies nicht geschieht, bleiben nach diesem Szenario immer noch zwei bis fünf Millionen unbesetzbare Jobs bis 2025. Das entspricht fünf bis zehn Prozent der heute statistisch erfassten 42,5 Millionen Arbeitsverhältnisse in Deutschland.
Zwei alternative Zukunftsszenarien
Vor diesem Hintergrund sind zwei gegensätzliche Szenarien denkbar. Zunächst das griechische „Eskapismus-Modell“: Wir sehen die Fakten, ändern nichts, reden von Spieltheorie und spielen „va banque“. Wir bauen polemisch-aggressiv politischen Druck auf und sind erstaunt, wenn wir damit in eine Negativspirale geraten, aus der uns auch frisch gedrucktes Geld, Negativzinsen und Schuldenerlasse nicht mehr retten können. Individuelle Kreativität in einem solchen Szenario wird vor allem darin bestehen, bei einem bestenfalls stagnierenden Rentenniveau die sinkende Kaufkraft auszugleichen. Und selbst auf Unternehmensebene wird eine schwache Währung nur temporär die internationale Wettbewerbsfähigkeit und damit den Fortbestand des Unternehmens sichern können.
Der Gegenentwurf könnte lauten: Wenn wir lernen müssen, mit Unsicherheit umzugehen, dann wird „Employability“ wichtiger als garantierte Sozialleistungen oder ein Job auf Lebenszeit. Die temporäre Zusammenarbeit in wechselnden Projekten fördert nicht nur die individuelle Kompetenz, sondern ist auch bereichernd, wenn konkrete Ergebnisse eher in 100 Stunden als in 100 Tagen erwartet und möglich werden. Temporäre Phasen hoher Anspannung aber mit konkreten Terminen, Ergebnissen und Erfolgserlebnissen bieten im Gegenzug auch vor dem 65. Lebensjahr die Chance, eine Auszeit für die Kindererziehung oder für eine Weltreise zu nehmen und damit die Motivation und Leistungsfähigkeit auf ein erfülltes Arbeitsleben auch jenseits des aktuell gültigen Renteneintrittsalters zu erhalten.
Entscheiden Sie selbst, welches Szenario Sie bevorzugen! Sicher ist nur: Die Zukunft wird anders.