AuslandsgeschäftPerspektiven deutscher Unternehmen im Wachstumsmarkt Indien
Gängigen Prognosen zufolge wird Indien spätestens in den zwanziger Jahren zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen. Nachdem aufgrund von wachsenden Rohstoff- und Personalkosten und immer schlechter werdenden Konditionen für ausländische Unternehmen Ernüchterung in Bezug auf China eingetreten ist, fragen sich viele: Zieht die Karawane nun nach Indien weiter?
Indien stand deshalb im Blickpunkt einer Veranstaltung der Fachhochschule für angewandtes Management Erding im Juni 2008: Experten namhafter Institutionen und Unternehmen diskutierten Chancen und Risiken deutscher Unternehmen in diesem Markt und versuchten zu einer Einschätzung zu gelangen, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Engagement in Indien Erfolg verspricht. Dazu wurden Rahmenbedingungen eruiert und Besonderheiten von Markteintritt, Marketing, Kommunikation, Projektmanagement, Verhandlungsführung und deutsch-indischer Teamarbeit beleuchtet. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen
Im Unterschied zu China ist Indien eine in der Bevölkerung breit akzeptierte Demokratie mit einem – wenn auch langsam – funktionierenden Rechtssystem. Mit einer Bevölkerungszahl von mehr als 1,1 Milliarden erreicht Indien zwar noch nicht die Größe Chinas (1,3 Milliarden), betrachtet man jedoch die Altersstruktur, so zeigt sich Indien im Vorteil: die junge Bevölkerung – ein Viertel der Weltbevölkerung unter 25 Jahren lebt in Indien - wird dafür sorgen, dass Indien ab ungefähr 2030 China an Zahl und vor allem Anteil jüngerer Erwerbsfähiger übertrumpfen wird.
Indien ist als toleranter, säkularer Staat konzipiert, der ein friedliches Nebeneinander unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen anstrebt. Neben der Hindumehrheit von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung ist ein Anteil von ungefähr13 Prozent Muslims zu verzeichnen. Rechnet man diesen Prozentsatz hoch und vergleicht, erhält man den zweitgrößten islamischen Staat der Welt. Zieht man dazu noch die weit überdurchschnittliche Wachstumsrate dieses Teils der Bevölkerung in Betracht und die Tatsache, dass die unterschiedlichen Rechtsauffassungen von Hindus und Muslims Konflikte hervorrufen, kann man die Gefahr von beidseitigen Übergriffen – wie auch schon in der Vergangenheit geschehen – nicht von der Hand weisen.
Kaum zu durchschauen ist für westliche Manager das mit der Staatsgründung abgeschaffte, aber in den Köpfen der Menschen weiter existierende, im Hinduismus begründete, Jahrtausende alte Kastensystem. Die Regierung bemüht sich um Ausgleich, indem sie Förderprogramme für die diskriminierten niedrigen Kasten und eine Quote öffentlicher Ausbildungs- und Arbeitsplätze für sie bereit hält, wodurch der Aufstieg ehemals „Unberührbarer“ in höchste Ämter und Positionen möglich ist. Deutsche Unternehmen versuchen in ihrer Einstellungspolitik, sich neutral zu verhalten, was jedoch bei der Besetzung von Führungspositionen Irritationen hervorrufen kann.
Wirtschaftliche sowie infrastrukturelle Rahmenbedingungen und Arbeitsmarkt
Eine aufstiegswillige, gebildete, wirtschaftlich prosperierende, urbane Mittelschicht - die Schätzungen pendeln zwischen 220 und 300 Millionen Menschen - erwirtschaftet ungefähr 60 Prozent des Bruttosozialprodukts. Sie verursacht einen Nachfragesog nach Gütern aller Art, womit sich ein weiterhin überdurchschnittliches Wirtschaftswachstum – in den vergangenen Jahren lagen die Quoten bei um die 9 Prozent – prognostizieren lässt.
Als Vorteil Indiens im Vergleich zu China ist zunächst die weite Verbreitung der englischen Sprache anzuführen. Mit seinem Reservoir an gut ausgebildeten Arbeitskräften hat sich Indien bereits einen Namen als „Werkbank der Welt für Dienstleistungen“ geschaffen. Das Wissen indischer Ingenieure und IT-Spezialisten wird weltweit geschätzt. Nach der Zahl der Studierenden verfügt Indien bereits über das drittgrößte System höherer Bildung der Welt, viele Universitäten und Hochschulen arbeiten auf hohem Niveau. Defizitär ist dagegen noch das indische System der Berufsbildung. Unbestritten wird der Bildung eine hohe Wertschätzung eingeräumt. Leitende Angestellte indischer Unternehmen werden wegen ihrer sehr guten Ausbildung geachtet.
Zwar bietet Indien noch sehr günstige Lohnkosten, will man jedoch deutsche Qualitätsstandards sichern, müssen hohe Ausbildungskosten einkalkuliert werden, deren Rentabilität aufgrund einer hohen Personalfluktuation für die Unternehmen immer wieder in Frage steht. Auch muss mit einem Kostenanstieg für das Personal von 10 bis 15 Prozent pro Jahr gerechnet werden. Probleme bereitet ein allzu stark reglementiertes Arbeitsrecht.
Im Vergleich zu China hört man aus Indien weitaus weniger Klagen über erzwungenen Technologietransfer und Markenschutzverletzungen. Auch gibt es keine teure Pflichtzertifizierung (wie noch in China oder Russland).
Ein Steuerparadies ist Indien nicht. Die Steuer für ausländische Unternehmen liegt bei ungefähr 42 Prozent. Auch ist das System der Abgaben (Mehrwertsteuer, Sales Tax) für deutsche Unternehmen unübersichtlich, kann auch durch unterschiedliche Auslegungen von Region zu Region unterschiedlich sein.
Positiv vermerken die Unternehmen, dass es keine Mindestinvestitionen und keine gesetzlichen Forderungen nach dem Bezug lokaler Komponenten für die Produktion gibt. In vielen Bereichen ist die Gründung von Gesellschaften mit 100 Prozent ausländischen Anteilseignern inzwischen schon möglich.
Ein in der Vergangenheit existierendes System aus staatlichen Kontrollen und Anreizen hatte der Korruption von Behördenvertretern Vorschub geleistet und damit ein Problem geschaffen, mit dem in Indien immer noch zu rechnen ist.
Die Verkehrsinfrastruktur ist veraltet und stark überlastet. Rückgrad ist immer noch das von den Briten eingeführte Eisenbahnnetz. Der Ausbau von Straßen und Flughäfen ist zwar in Planung, kommt aber nur langsam voran.
Schwierig gestalten kann sich die Suche nach verlässlichen Geschäfts- oder
Vertriebspartnern. Sind Joint-Ventures schon ganz allgemein eine Herausforderung für die Unternehmen, so kommt bei deutsch-indischen Joint-Ventures hinzu, dass man nur mit Zustimmung des indischen Partners wieder aussteigen kann. Den Erfahrungen der Unternehmen nach gilt, dass man vor jedem Joint Venture kritisch prüfen muss, ob die Interessen der beiden Unternehmen tatsächlich weitgehend übereinstimmen; unterschiedliche Interessenlagen programmieren Schwierigkeiten vor. Als am ehesten Erfolg versprechend scheint sich der Zusammenschluss eines größeren mit einem kleineren Partner, in dem Möglichkeiten, Funktionen und Rollen klar unterschieden werden.
Besondere Herausforderungen im interkulturellen Bereich
Studien zufolge liegt der wichtigste Grund für das Scheitern von Auslandsengagements vor allem in der Problematik der Anpassung von Managern an kulturellen Faktoren. Ebenso sind Misserfolge im Projektmanagement in den meisten Fällen auf unterschiedliche Arbeitskulturen zurückzuführen. Die interkulturellen Unterschiede sind deshalb mit größter Sorgfalt zu betrachten.
In Indien herrscht ein völlig anderes, „polychrones“ Zeitverständnis, nämlich die Ansicht, dass Zeit eine untergeordnete Rolle spielt, keinen Wert an sich darstellt, im Gegensatz zu einem westlichen „monochronen“ Zeitverständnis, nach dem Zeit gut eingeteilt und genutzt werden will. Vorhaben in Indien dauern deshalb auch häufig länger als von Deutschland aus kalkuliert.
Indien ist eine hierarchische Gesellschaft im Gegensatz zu den flachen, funktionalen Hierarchien in Deutschland. Der Respekt, der dem Höhergestellten entgegengebracht wird, geht mit vielerlei Pflichten einher: Arbeitsergebnisse sind für Vorgesetzte beispielsweise eine Holschuld, keine Bringschuld der Mitarbeiter. Auch ist es in Indien erforderlich, mit einem gewünschten Gesprächspartner auf einer ähnlichen Hierarchiestufe zu stehen, was deutsche Unternehmen zu einem flexiblen Umgang mit den Titeln ihrer Mitarbeiter auf den Visitenkarten nötigt. Die Hierarchie-Orientierung bedeutet auch, dass indische Mitarbeiter nach Statussymbolen aller Art streben.
Unverstanden bleibt häufig die Beziehungs-Orientierung von Indern, während bei Deutschen die Zweckorientierung vorherrscht, indem man möglichst schnell „zur Sache“ kommen möchte. Praktisch bedeutet dies, dass bei Geschäftsbeziehungen aller Art zunächst buchstäblich eine gute Beziehung zum Partner aufgebaut und damit Vertrauen geschaffen werden muss. Wird dieses Bedürfnis ignoriert, ist der Abschluss erfolgreicher Vereinbarungen von vorneherein unmöglich.
Eine niedrige Unsicherheitsvermeidung der Inder steht einer sehr hohen der Deutschen gegenüber. Dem Risikomanagement muss deshalb besondere Aufmerksamkeit entgegen gebracht werden. Während Deutsche schon eine geringe Abweichung vom Plan als Risiko empfinden, reagieren Inder lange sehr gelassen - ohnehin ist die deutsche Planungstiefe für Inder gewöhnungsbedürftig.
Kommunikation in indischen Unternehmen zielt vor allem auf Harmonie ab und damit auf Konfliktvermeidung, was „klärende“ Gespräche, wie sie in deutschen Unternehmen üblich sind, unmöglich oder kontraproduktiv macht. Dies erfordert einen äußerst sensiblen Umgang mit Kritik, denn Probleme müssen indirekt kommuniziert werden. Umgekehrt benötigen deutsche Manager großes Geschick, um Probleme überhaupt wahrzunehmen, gerade im Verbund mit einem häufig anzutreffenden, unerschütterlichen Optimismus der indischen Partner. Die gerne verwendete Floskel „no problem“ bedeutet oft keineswegs, dass tatsächlich alles in Ordnung ist.
Fazit
Indien bietet für deutsche Unternehmen ein attraktives Geschäftsumfeld, wenn langfristig geplant wird, die Unternehmen über einen langen Atem verfügen und bereit sind, sich auf die indischen Besonderheiten einzulassen. Gründe für das Engagement deutscher Unternehmen im indischen Markt werden vor allem darin gesehen, in einem schnell wachsenden Markt präsent zu sein beziehungsweise ihn nicht der Konkurrenz zu überlassen, dabei Zollregelungen und andere rechtliche Bestimmungen zum Vorteil zu nutzen und Währungsrisiken zu hedgen.
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