BarcampsKonferenzen mit „Mein-Baby-Effekt“
Auf vielen Symposien und Conventions dominiert nach wie vor die Frontalbeschallung. Die Teilnehmer harren mal mehr, mal weniger erwartungsfroh der Dinge, die da kommen mögen: Smarte Herren in Anzug und enger Weste stehen hinter Rednerpulten wie hinter einem Schutzschild und lesen ihre Reden von Manuskripten ab. Mit Laserpointern beschießen sie Präsentationen, die ab der dritten Reihe niemand mehr lesen kann, sprechen über Schlachten und glorreiche Siege, während die Assistentin mit Zahlen, Daten und Fakten überfrachtete Slides durchklickt. Insgesamt aber bleibt Vieles an der Oberfläche, das meiste wird für den schönen Schein produziert und hinterlässt unberührte Zuhörer.
Wie Kongress 3.0 funktioniert
Anders läuft das bei neuen Kongress-Formaten wie etwa Barcamps ab: Hier berichten Menschen darüber, was wirklich in ihren Unternehmen passiert, was gut und schlecht läuft. Rednerpult und Manuskript brauchen sie nicht, dafür befinden sie sich auf dialogbereiter Augenhöhe mit dem Publikum. Noch während sie wertvolle Erkenntnisse teilen, haben die Zuhörer die interessantesten Aussagen über ein Mobilgerät bereits online geprüft.
So können sie mitdiskutieren und sinnvolle Fragen stellen. An einer Twitterwand lässt sich in Echtzeit verfolgen, was der Saal von dem Gesagten hält. Sofortiges Feedback ist garantiert. Mithilfe von Live-Voting-Geräten werden Mehrheitsmeinungen abgefragt und bisweilen sogar unmittelbare Entscheidungen herbeigeführt.
Illustratoren begleiten das Geschehen und malen ein visuelles Protokoll, das außer den Fakten auch Emotionen enthält. Ein Livestream-Video sorgt dafür, dass auch die Daheimgebliebenen die Ereignisse verfolgen können, während das Ganze im Unternehmensblog zeitnah mit zusätzlichen Informationen angereichert wird. So lassen sich neue Ideen gemeinsam entwickeln und vorantreiben. Überkommene Kongress-Formate hingegen können das nicht leisten.
Hoher Aktivitätsgrad bei Barcamps
Selbst Großgruppen-Anlässe lassen sich so zu produktiven Mitmach-Events umgestalten. Barcamps sind Konferenzen ohne Tagungsplan und Rednerliste. Nach dem Motto „es gibt keine Zuschauer, nur Teilnehmer“, werden die Themen von den Anwesenden mehr oder weniger spontan selbst organisiert. Charakteristisch für diese Veranstaltungsform, die manchmal auch als Unkonferenz bezeichnet wird, sind die Auflösung von Hierarchien und Abteilungsgrenzen, ein fehlendes Detailprogramm, der ungehinderte Wissensaustausch und die freie Gestaltung. Per Abstimmung wird entschieden, welche vorgeschlagenen Themen interessant sind und weiter bearbeitet werden sollen.
Jeder Anwesende kann dabei sowohl impulsgebender Sprecher als auch interessierter Zuhörer sein. Je hochwertiger und konstruktiver der Input, desto qualitativer der Output. Der Aktivitätsgrad ist hoch, das Engagement umfassend, und brauchbare neue Ideen entstehen fast wie von selbst. Vor allem aber: Hierarchie- und Abteilungsfilter verlieren ihre bremsende Wirkung.
Für die Unternehmensführung bedeutet das Macht- und Kontrollverlust. Indem die Verantwortung nämlich an Viele abgegeben wird, kann das Ergebnis in völlig unvorhersehbare Richtungen gehen. Insgesamt überwiegen die Chancen das Risiko, denn die anwesenden Mitarbeiter gehen mit einem derartigen Vertrauensvorschuss meist sehr sorgfältig um.
Beispiele aus der Praxis
Unter Bloggern sind Barcamps schon seit Jahren populär. Eine der größten Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum ist die Konferenz „re:publica“ rund um das Web 2.0, Weblogs, soziale Medien und die Digitale Gesellschaft. Dabei diskutieren die Teilnehmer Themen aus dem digitalen Leben und tauschen sich aus. Aber auch traditionelle Organisationen experimentieren mit solchen Veranstaltungsformen. Unter dem Titel „Kirche 2.0“ etwa wurden bereits mehrere Barcamps organisiert. Dabei ging es um kirchliche Sinnangebote im Social Web. Fragestellungen waren unter anderem: Wie können Gemeinden das Web 2.0 nutzen? Was kann das interaktive Internet für die kirchliche Arbeit bedeuten? Wie sehen religiöse Sinnangebote online aus?
Solche Formate sind nicht abhängig von Konzepten, die im stillen Kämmerlein ausgearbeitet wurden und hinterher von der Unternehmensleitung nach unten weitergegeben werden. Mitarbeiter müssen selbst und freiwillig sagen können, was sie sich künftig wie vorstellen könnten. Begeisterung für die Sache wird auf diesem Weg gleich mitgeliefert. Wichtiger noch: Die geplanten Maßnahmen werden dann auch engagiert umgesetzt, denn sie wurden in Eigenregie entwickelt und nicht von Oben vorgegeben („Mein-Baby-Effekt“).