Dynamic FacilitationBesprechungen frei laufen lassen
Ein guter Moderator ist Gold wert. Er bereitet Besprechungen so vor, dass alle wissen, worum es geht und jeder Teilnehmer einen wichtigen Beitrag leisten kann. Er sorgt dafür, dass die Besprechung effizient abläuft und am Ende ein gutes Ergebnis herauskommt. Er hält alle Beiträge fest und stellt diese nach der Besprechung zur Verfügung. Das setzt voraus, dass der Moderator sehr genau weiß, was er will, dass er mit den Teilnehmern richtig umgeht und sie so zu einem Ziel führt.
Wenn der Moderator zu sehr dominiert
Doch manchmal dominiert der Moderator zu sehr und zwingt die Anwesenden in das von ihm ausgedachte Korsett. Er erkennt nicht, wenn die Teilnehmer in eine andere Richtung gehen wollen, andere Ziele anstreben oder mit seiner Vorgehensweise nicht zurecht kommen. Die Folge: Unmut und Konflikte. Die Teilnehmer resignieren und warten nur darauf, dass die Besprechung endlich zu Ende geht. Am Ende sind sich alle einig: Das Ergebnis hätte besser ausfallen können und müssen, denn das eigentliche Problem wurde nicht gelöst.
Gerade wenn es darum geht, schwierige Probleme zu diskutieren, neue Lösungen zu finden oder heikle Entscheidungen zu treffen, muss der Moderator Fingerspitzengefühl beweisen. Er muss sich selbst zurücknehmen und darf die Dynamik der Gruppe nicht in seinen Regieplan pressen, sondern den Teilnehmern freien Lauf lassen.
Jim Rough hat dafür die Moderationsmethode „Dynamic Facilitation“ entwickelt. Sie soll helfen, dass sich in Meetings das richtige Ergebnis gewissermaßen von selbst einstellt, dass Durchbrüche erzielt werden, mit denen vorher keiner gerechnet hat.
Jeder sagt, was ihm wichtig ist
Bei Dynamic Facilitation gibt es keinen festen Plan und keinen starren Ablauf für die Besprechung. Der lineare Diskussionsprozess wird aufgebrochen. Diese Methode setzt auf die Menschen, auf ihre spontanen Einfälle und Beiträge. Denn: Menschen denken nicht linear, sondern spontan, impulsiv und emotional.
Alle Teilnehmer eines Meetings können zu jeder Zeit das in die Diskussion einbringen, was ihnen auf dem Herzen liegt und was ihnen gerade einfällt. Dabei wird explizit berücksichtigt, dass Menschen Emotionen, Werte und Wünsche haben. Die Prozessmoderatorin Marie-Luise K. Stiefel hat dies für ihre Workshops nach dem Prinzip des Dynamic Facilitation auf der Webseite des Netzwerk Gemeinsinn e.V. so beschrieben:
„Bei Dynamic Facilitation wird der Prozess des Gesprächsverlaufs, also die Abfolge und Inhalte der Beiträge, nicht von der Moderatorin gesteuert. Die Gruppenteilnehmer sind frei, ihren Impulsen zu folgen und diese zu äußern. Die Moderatorin folgt der Dynamik in der Gruppe, hört zu, fragt gegebenenfalls nach und hilft den Teilnehmenden, das zu sagen, was sie wirklich meinen.“
Aufgaben des Moderators
Gleichzeitig darf es nicht chaotisch und beliebig zugehen, denn es soll ja ein gutes Ergebnis herauskommen. Dynamic Facilitation schafft dafür einen entsprechenden Rahmen. Es eignet sich für schwierige, konfliktträchtige Themen, die große Betroffenheit bei den Mitarbeitern und Teilnehmern auslösen. Die Gruppe sollte zwischen 3 und 20 Teilnehmer umfassen, die sich auch sonst gut kennen und regelmäßig zusammenarbeiten.
Der Moderator ist vor allem Zuhörer, aber durchaus entschlossen und mit einer klaren Vorstellung vom Ablauf. Er sorgt dafür, dass die Energie und Leidenschaft, die die Teilnehmer für das Thema aufbringen, zur Geltung kommen. Der Moderator lässt der Diskussion freien, kreativen, emotionalen und damit produktiven Lauf. Er achtet nur auf wenige Rahmenbedingungen:
- Jede Stimme und Aussage wird vollständig wahrgenommen.
- Jeder hat genug Zeit, sein Anliegen vorzubringen; niemand wird unterbrochen.
- Alle Themen, Beiträge und auch Einwände werden notiert oder visualisiert.
- Diese Themenlandkarte und die Beiträge sind für alle immer sichtbar.
- Ein Schlagabtausch zwischen Teilnehmern wird abgebrochen, wenn die Gruppe dadurch nicht vorankommt und die Energie in der Diskussion absorbiert wird.
- Auch emotionale Beiträge sind zugelassen; Kopf und Herz haben den gleichen Wert.
Richtiger Einstieg und Freisetzung der Besprechungsenergie
Oft ist der richtige Einstieg entscheidend für den Ablauf des Dynamic-Facilitation-Prozesses. Der Moderator kann ein Thema grob vorgeben und dann alle Teilnehmer fragen: „Was ist Ihr Standpunkt dazu? Was wollen Sie dazu sagen? Was liegt Ihnen bezüglich dieses Themas auf dem Herzen?“
Er kann die Teilnehmer aber auch auffordern, das Thema selbst festzulegen: „Worüber müssen wir heute gemeinsam sprechen? Welches Problem brennt uns allen unter den Nägeln? Wofür brauchen wir unbedingt eine Lösung?“ Dann wird im ersten Schritt das gemeinsame Thema ausgewählt (zum Beispiel durch eine Punktabfrage) und im weiteren Verlauf der Besprechung behandelt.
Der Moderator muss sich im Klaren sein, dass bei Dynamic Facilitation nicht immer ein Ergebnis herauskommen muss, das alle zufrieden stellt. Wichtig ist vielmehr, dass alle Teilnehmer die unterschiedlichen Sichtweisen erfahren, dass sie die Beiträge und Meinungen der anderen verstehen und entsprechend berücksichtigen können. Dann ist die Gruppe dafür verantwortlich, welche Fortschritte sie erzielt und was am Ende herauskommt. Ein besonderes Problem beschreibt Marie-Luise K. Stiefel aus einem ihrer Workshops so:
„Die Teilnehmer waren dann auch unzufrieden. Die erste Phase (…) ist oft mühsam, weil hier noch nichts Neues entsteht, weil die Bereitschaft, neugierig hinzulauschen, was von anderen gesagt wird, normalerweise nicht sehr groß ist, solange man das, was einem selber unter den Nägeln brennt, noch nicht sagen durfte.“
Deshalb kann es hilfreich sein, wenn der Moderator vor dem Beginn der eigentlichen Besprechung die Methode erklärt, die Rahmenbedingungen nennt und auch auf mögliche Fallstricke hinweist.
Sortierung aller Beiträge
Die wichtigste Methode bei Dynamic Facilitation ist das sogenannte „Choice Creating“, also Wahlmöglichkeiten schaffen. Dazu werden alle Aussagen während des gesamten Prozesses vier Kategorien (Listen) zugeordnet:
Probleme
Ausgangssituation oder Erkenntnisse, wie sie sich heute zeigen und wie sie die Teilnehmer wahrnehmen.
Lösungen
Möglichkeiten, Alternativen, Chancen oder Hilfen, die die Teilnehmer einbringen.
Bedenken
Befürchtungen oder Einwände, die die Teilnehmer äußern; möglichst keine allgemeinen Bewertungen wie „der Vorschlag ist schlecht“; eher: „Das wird mehr kosten“.
Informationen
Sind hilfreich, um sich jeweils ein genaueres Bild zu machen; zum Beispiel Zahlen, Daten, Fakten, Beispiele oder Äußerungen von Personen, die nicht teilnehmen.
Jede einzelne Aussage wird schriftlich festgehalten und zugeordnet, aber dann nicht mehr einzeln diskutiert. Der Moderator schreibt auf und visualisiert die Beiträge so, wie sie vom jeweiligen Teilnehmer gemeint sind. Dazu fragt er nach: „Habe ich das so richtig wiedergegeben?“
Außerdem regt er schweigsame Teilnehmer zur Mitwirkung an. Seine wichtigste Aufgabe besteht nämlich darin, alle Teilnehmer dazu zu motivieren, das zu sagen, was sie wirklich bewegt – und das am konkreten Beispiel.
Wenn die Besprechung stockt
Nicht selten kommt bei den Teilnehmern Frust auf. Sie sehen die vielen Probleme, die abweichenden Meinungen und Standpunkte und keine wirkliche Lösung. Jeder hat etwas gesagt, aber bei keinem stellt sich eine neue Erkenntnis ein. In einem solchen Fall hat der Moderator folgende Interventionsmöglichkeiten:
Warten
Er fordert die Teilnehmer auf, sich alle Beiträge noch einmal anzuschauen und darüber nachzudenken. Danach kommen neue Vorschläge, Einsichten oder Anmerkungen.
Wiederholen
Er bietet an, alles, was bisher gesagt wurde, noch einmal zu wiederholen. Er kann seine eigenen Eindrücke wiedergeben: „Mein Eindruck ist, dass ein Teil von Ihnen das Thema XY so sieht: …“ Der andere Teil hält dagegen. Auf diese Art entstehen neue Beiträge, Korrekturen oder Anmerkungen und die Diskussion kann weitergeführt werden.
Der Moderator sollte sich allerdings verkneifen, selbst Beiträge einzubringen oder Lösungsvorschläge zu machen. Diese müssen immer aus der Gruppe kommen. Ansonsten heißt es warten. Wie weit das führen kann, beschreibt Matthias zur Bonsen, Experte für Dynamic Facilitation, an einem Beispiel in der Zeitschrift „OrganisationsEntwicklung“:
„Wenn jemand nach einigen Stunden sagt: 'Moment mal. Wir marschieren gerade in eine ganz falsche Richtung. Es gibt da noch ein viel tieferes (oder breiteres oder anderes) Problem.' Dann schreibt der Moderator dieses auf die Liste der Probleme, und die Gruppe verfolgt diese Idee, wenn sie gerade Interesse hat, oder auch nicht. Der Moderator unternimmt nichts, um die Gruppe auf einem linearen Weg zu halten. Er achtet tatsächlich nicht auf den roten Faden.“
Auch ein Abbruch ist ein gutes Ergebnis
Wie kommt eine Besprechung mit Dynamic Facilitation zu einem guten Ende? Ziel ist, das kreative Denken der Teilnehmer zu fördern, möglichst viele Facetten eines Themas zu beleuchten, alle Meinungen, Ideen, Anregungen, Bedenken, Wünsche, Interessen oder Befürchtungen offen zu legen. Wenn das gelingt, stellt sich bei den Teilnehmern ein Aha-Effekt ein. Das bedeutet: Die Teilnehmer schaffen einen unerwarteten Durchbruch oder gelangen zumindest zu einer gemeinsamen Einsicht.
Es kann aber auch vorkommen, dass man am Ende nicht weiter kommt und abgebrochen wird. Auch diese Einsicht kann ein gutes Ergebnis sein, denn: Dynamic Facilitation eignet sich vor allem bei emotionalen Themen oder wenn die Probleme scheinbar unlösbar sind. Der offene, manchmal chaotisch wirkende Prozess setzt so viel Kreativität frei, dass Durchbrüche möglich werden. Und Emotionen, die zugelassen und gefördert werden, sorgen dafür, dass sich alle Beteiligten auf das gemeinsame Ergebnis verständigen können. Der Erfinder von Dynamic Facilitation, Jim Rough, sagt im Interview mit Matthias zur Bonsen in der Zeitschrift „managerSeminare“:
„In meinen Seminaren möchte ich die Teilnehmer einen Durchbruch erleben lassen. Ich lasse sie an einem scheinbar unlösbaren Thema arbeiten und dann den kollektiven Denk-Raum erreichen, wo jedem klar wird, dass die Gruppe ihr Problem lösen könnte, wenn sie genügend Zeit hätte.“