F&E-StandorteErfolgreicher Aufbau in Schwellenländern
Vom Offshoring zur Innovation
Westliche Unternehmen bauen verstärkt vollwertige F&E-Standorte in Schwellenländern auf, um diese immer attraktiver werdenden Märkte mit passenden Produkten zu bedienen. Vor allem das in diesen Ländern stark wachsende mittlere Marktsegment, von dem eine strategische Bedeutung ausgeht, fordert ganz neue maßgeschneiderte Produktangebote, die es in den bisherigen Kernmärkten westlicher Unternehmen so nicht gibt. Diese Kunden verlangen oftmals nach robusten Produkten zum spezifischen Einsatz in ihrem Alltag – und das auch noch zu einem niedrigen Preis.
Die Entwicklung des Tata Nano ist hierfür ein gutes Beispiel. Dieser PKW ist speziell für die indische Mittelschicht entwickelt und unterscheidet sich hinsichtlich Funktionalität, Kosten und Preis deutlich von europäischen Autos. Es reicht daher nicht aus, dieses wichtige Marktsegment mit älteren Produktlinien aus den entwickelten Märkten zu bedienen. Stattdessen müssen Entwickler sehr genau darauf achten, welche Produkteigenschaften in diesem Segment wirklich kritisch sind. Dieses spezifische Wissen finden Unternehmen am besten direkt in den Zielmärkten. Und nicht nur für den lokalen Bedarf wird vor Ort an innovativen Produkten getüftelt. Den Wirkungsradius der F&E-Niederlassungen in China und Indien haben Vorreiterunternehmen längst auch auf Nachbarländer und teilweise sogar auf ihre Heimatmärkte erweitert.
So hat General Electric (GE) in Bangalore einen seiner drei ausländischen F&E-Standorte aufgebaut und als gleichberichtigten Partner in ein Kompetenznetzwerk integriert. Das Aufgabenspektrum ist sehr breit und reicht von einem tragbaren EKG für Schwellenländer über Triebwerke für den Boeing Dreamliner bis hin zu speziellen Stoßdämpfern zum Aufprallschutz von Fußgängern.
Erfolgreiche F&E in Schwellenländern ist aber nicht nur Großkonzernen vorbehalten. Der deutsche Labor- und Prozesstechnologie-Anbieter Sartorius AG hat erfolgreich F&E-Kapazitäten in Peking und Bangalore aufgebaut. Vor zwei Jahren wurde unter maßgeblicher Mitarbeit der asiatischen F&E-Teams das erste Produkt – eine Waage – für den asiatischen Markt entwickelt.
GE und Sartorius liefern in vielerlei Hinsicht typische Best-Practice-Beispiele für den Aufbau unternehmenseigener F&E-Standorte in Schwellenländern. Im Folgenden dienen diese Beispiele, um aufzuzeigen, welche Faktoren kritisch für den Erfolg sind.
Entscheidend für den Erfolg – die fünf zentralen Maßnahmen
1. Internationale F&E-Strategie
Die Internationalisierung der F&E soll klaren strategischen Vorgaben folgen. Sie darf keinesfalls „en passant“ von einzelnen Unternehmensbereichen aus kurzfristigen Kostenmotiven heraus betrieben werden. Ein permanentes, sprunghaftes Umverteilen einzelner F&E-Aktivitäten von einem Standort zum anderen rächt sich schnell.
Es kann häufig bis zu zehn Jahre dauern, bis ein selbständiger F&E-Standort in einem Schwellenland erfolgreich arbeiten kann. Ein derart langfristiges Projekt, das nebenbei auch noch weitreichende Veränderungen in der Unternehmenskultur und im Stammhaus mit sich bringt, muss strategisch wohl durchdacht sein.
So definiert sich GE als globales Unternehmen, das konsequenterweise seine Produkte nicht nur global vertreibt, sondern auch entwickelt. Diese internationale Marschroute war lange keine Selbstverständlichkeit – bis hin zu den 1990er Jahren war das Unternehmen sehr US-zentrisch. Dies änderte sich mit einer neuen Internationalisierungsstrategie, die an alle Mitarbeiter, auch in der F&E, klar kommuniziert und vom Top Management durch persönliches Engagement vorgelebt wurde. Aus dieser übergreifenden globalen F&E-Strategie lassen sich die Zuständigkeiten der jeweiligen Standorte ableiten.
Ähnliches gilt auch für Sartorius. So haben sowohl GE als auch Sartorius ihre F&E-Standorte zu eigenverantwortlichen, weltweiten Kompetenzzentren aufgebaut. Es ist eindeutig festgelegt, wer, was, wo für wen entwickelt. Den Unternehmen ermöglicht es darüber hinaus, lokale Vorteile weltweit zu nutzen.
2. Internationale Innovationskultur
Die Internationalisierung der F&E soll sich nicht lediglich auf eine Standortinternationalisierung beschränken. Sie muss einhergehen mit der Anpassung der Innovationskultur im gesamten Unternehmen. Dabei kommt erneut die Langfristigkeit des Vorhabens zum Ausdruck. Unternehmenskulturen ändern sich nicht von heute auf morgen. Erst durch eine Vielzahl von Maßnahmen können sie sich über Jahre hinweg langsam verändern und festigen. Eine international orientierte Innovationskultur bedeutet, dass F&E-Mitarbeiter an verschiedenen Standorten als gleichwertige Partner zusammenarbeiten und ein grenzüberschreitendes „Wir-Gefühl“ empfinden. Mechanismen, die eine Internationalisierung der Innovationskultur fördern, sind der Einsatz internationaler Teams und interkulturelle Schulungen für Führungskräfte und Mitarbeiter. Ein persönlicher internationaler Werdegang stärkt Verständnis und Offenheit von F&E-Mitarbeitern gegenüber anderen Kulturkreisen.
GE setzt beispielsweise auf ein formal verankertes Mitarbeiterrotationsprogramm zwischen den F&E-Standorten. Auch Sartorius baut auf längere gegenseitige Besuche mit Rahmenprogramm. Dadurch wird einerseits das Gemeinschaftsgefühl und gegenseitige Verständnis gefördert, andererseits stärkt es die Bindung und Loyalität der asiatischen Mitarbeiter zum Unternehmen.
3. Kompetente Standortleitung
Vor allem in der Anfangsphase ist es entscheidend, die Leitung eines neuen F&E-Standorts einer Person zu überlassen, die eine hohe fachliche, soziale und interkulturelle Kompetenz aufweist. Sie soll zudem über ein möglichst breites unternehmensinternes und -externes Netzwerk verfügen und Erfahrung an der Schnittstelle zwischen Top Management und operativen Einheiten haben. Des Weiteren sollte der Standortleiter eine umfassende Vorbildfunktion übernehmen, da er für neue lokale Mitarbeiter „das Gesicht“ ihres neuen Arbeitgebers ist.
Diese Eigenschaften sind entscheidend, um den neuen F&E-Standort innerhalb des Unternehmens und innerhalb der lokalen Forschungs- und Industriegemeinde zu etablieren. Zudem helfen sie, erste Projekte innerhalb des Unternehmens zu akquirieren und die nötige Akzeptanz im Stammhaus zu gewährleisten. Es versteht sich somit von selbst, dass der Posten keinesfalls als Abstellgleis für Mitarbeiter geeignet ist, die bereits im Stammhaus als schwer vermittelbar gelten.
4. Vernetzung im lokalen wissenschaftlichen und industriellen Umfeld
Der Erfolg einer F&E-Niederlassung in China oder Indien hängt maßgeblich davon ab, ob sie in das lokale industrielle und wissenschaftliche Netzwerk integriert werden kann. Und dazu muss sie auch als ein lokaler Akteur wahrgenommen werden. Der Aufbau von regionalen Kontakten ist eine relativ langfristige Angelegenheit. China und Indien investieren seit Jahren in F&E. Immer mehr Forschungseinrichtungen und Hochschulen können mit ihren westlichen Pendants mithalten. Dies manifestiert sich deutlich in der Zahl von wissenschaftlichen Publikationen und Patentanmeldung. GE pflegt einen engen Kontakt zu den besten Forschungseinrichtungen und Hochschulen des Landes. So entstehen wertvolle Netzwerke, die auch den Zugang zu den besten und auf dem Arbeitsmarkt heiß begehrten Absolventen ermöglichen.
5. Schrittweise Übertragung des sog. „Ownerships“
Vom Stammhaus ferngesteuerte Projekte und repetitive Standardtätigkeiten wie Wartung und Dokumentation (Stichwort: „verlängerte Werkbank“) werden mittelfristig keine überdurchschnittlich ausgebildeten Ingenieure und Naturwissenschaftler am chinesischen oder indischen F&E-Standort motivieren. Um die besten Köpfe rekrutieren und auf Dauer auch halten zu können, bedarf es neben attraktiver Vergütung und ansprechendem Arbeitsplatz auch einer Motivation auf intellektueller Ebene.
Plant ein Unternehmen einen F&E-Standort aufzubauen, der mehr sein soll als ein Hilfsstützpunkt zur Durchführung ungeliebter Stammhaustätigkeiten, müssen lokalen F&E-Mitarbeitern entsprechend interessante Arbeitsinhalte garantiert werden. Nichts motiviert so gut, wie eigenverantwortlich durchgeführte, international orientierte, innovative Projekte, die zudem in international zusammengesetzten Teams durchgeführt werden. Ohne eine solche Übertragung von „Ownership“ droht schnell ein beachtlicher Mitarbeiterschwund. Und auf dem heiß umkämpften lokalen Arbeitsmarkt werden gut ausgebildete und „on-the-job“ weitergebildete Mitarbeiter von der Konkurrenz mit offenen Armen empfangen. GE und Sartorius wissen um diesen Umstand und übertragen ihren lokalen Entwicklern daher schrittweise verantwortungsvolle Aufgaben.
Fazit
Durch den Aufbau lokaler F&E-Niederlassungen avancieren China und Indien zu wichtigen Stützpunkten auf der Innovationslandkarte vieler Unternehmen. Der Aufbauprozess ist jedoch langwierig und nicht ohne Tücken. Die hier mit Beispielen beschriebenen Maßnahmen sind sehr hilfreich, um den Aufbau zum Erfolg werden zu lassen. Langfristig können diese Maßnahmen auch dazu beitragen, dass der neue F&E-Standort seinen überregionalen Einfluss festigt und vermehrt Produkte entwickelt, die auch auf den westlichen Kernmärkten hoch gefragt sind. Das von GE entwickelte EKG-Gerät jedenfalls wurde nach geringen Anpassungen im Frühjahr 2009 auch in den USA auf dem Markt eingeführt. Und Beispiele wie diese gibt es immer mehr.
Dieser Beitrag ist die Kurzform eines gleichnamigen Artikels, der in der Zeitschrift io new management, Ausgabe Nr. 10 (Oktober) 2009, veröffentlicht wurde.
Hinweis
Zahlreiche weitere Erfahrungsberichte bekannter Unternehmen über den Aufbau ihrer F&E-Standorte in Schwellenländern, eine hilfreiche Checkliste und praxisnah aufbereitete wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema finden Sie in dem vor kurzem erschienenen Herausgeberband von Holger Ernst, Anna T. Dubiel und Martin Fischer:
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