FehleinschätzungWarum Führungskräfte Mitarbeiter oft falsch beurteilen
Im Alltag beurteilen wir Menschen oft spontan. Kommt zum Beispiel ein Handwerker zur ausgemachten Zeit, stufen wir ihn als zuverlässig ein. Tritt uns eine Person lächelnd entgegen, denken wir, wir können ihr vertrauen. Auch wenn wir mit unserer ersten Beurteilung nicht immer gleich richtig liegen, hat dies in unserem Alltag in der Regel keine weitreichenden negativen Konsequenzen.
Anders verhält sich das, wenn Führungskräfte, etwa basierend auf Fehleinschätzungen, Mitarbeiter einstellen oder befördern. Dann wirkt sich dies negativ auf den Erfolg ihres Unternehmens aus. Wichtig zu wissen ist es deshalb, wann und warum Führungskräfte zu Fehleinschätzungen neigen. Nur so lassen sich Entscheidungen, bevor sie getroffen werden, nochmals überprüfen und danach gegebenenfalls revidieren.
Der Sympathie-Effekt
Warum Führungskräfte oft auf an sich nicht geeignete Bewerber setzen, liegt auch an eigenen Sympathien für den Kandidat. Hier spielen zum Beispiel ähnliche Charakterzüge oder gleiche Hobbys eine Rolle. Doch nehmen wir beispielsweise einen Buchhalter: Dieser braucht andere Fähigkeiten und Eigenschaften als der Chef eines Unternehmens. Menschen vom Typ „Erbsenzähler“ sind an der Unternehmensspitze in der Regel nicht gut aufgehoben, in der Buchhaltung jedoch können ihre Fähigkeiten durchaus zum Tragen kommen.
Führungskräfte machen sich oft nicht ausreichend bewusst, dass die verschiedenen Funktionen in einer Organisation neben unterschiedlichen Fähigkeiten auch verschiedene Persönlichkeitstypen erfordern. Entsprechend häufig tappen sie beim Auswählen, Befördern und auch Fördern von Mitarbeitern in die Sympathiefalle: Sie bevorzugen unbewusst Personen, mit denen sie auch privat gerne verkehren würden.
Der „Ich-bin-der-Maßstab-Effekt“
Oft legen Führungskräfte beim Bewerten anderer Personen ihre Kompetenz als Maßstab an. Das führt häufig zu Fehlentscheidungen. Ein Beispiel: Angenommen ein Unternehmen plant eine IT-Schulung und die verantwortliche Führungskraft ist firm in Sachen IT. Dann besteht die Gefahr, dass sie die IT-Kompetenz ihrer Mitarbeiter eher schlecht einstuft, obwohl sie über die für ihren Job erforderlichen Kenntnisse verfügen. Dies wird sie auch ihren Mitarbeitern gegenüber zum Ausdruck bringen, was diese frustriert. Zudem besteht die Gefahr, dass die Führungskraft ihre Mitarbeiter zu IT-Schulungen schickt, die für ihren Job nicht nötig wären – und das Unternehmen gibt unnötig Geld aus.
Der umgekehrte Fall: Eine Führungskraft ist in Sachen IT wenig versiert. Hier besteht die Gefahr der Überschätzung des entsprechenden Know-hows ihrer Mitarbeiter – mit der Folge, dass eventuell erforderliche Schulungen gar nicht durchgeführt werden. Die Konsequenz: Aufgaben werden nicht zufriedenstellend oder in angemessener Zeit erledigt, als das vielleicht möglich wäre.
Der Benjamin-Effekt
Eng verwandt mit dem Hierarchie- ist der so genannte Benjamin-Effekt. Von ihm spricht man, wenn jungen Mitarbeitern automatisch mehr oder weniger Kompetenz zugeschrieben wird als älteren Kollegen, die schon viele Jahre Berufserfahrung haben und eventuell schon lange fürs Unternehmen arbeiten. Insbesondere in Organisationen wie Industrieunternehmen und Verwaltungen ist es häufig der Fall, dass jungen Mitarbeitern weniger zugetraut wird und sie sich erst einmal bewähren müssen. Die Gefahr: Junge, talentierte Mitarbeiter wandern ab, weil sie in ihren Augen nur „Zulieferarbeiten“ erledigen müssen und kaum gefördert werden.
Das Gegenteil hingegen registriert man oft in IT-Unternehmen oder Werbeagenturen, die sich als Kreativschmieden verstehen. Hier wird älteren Mitarbeitern häufig unterstellt, sie seien nicht mehr „up to date“, weniger flexibel, kreativ, belastbar und lernfähig als ihre jüngeren Kollegen. Auf diese Weise wiederum wirkt sich der Benjamin-Effekt positiv für die Jungen aus, während sich die älteren Mitarbeiter eher zurückziehen.
Der Halo-Effekt
Oft schließen Führungskräfte auch von einer bestimmten Fähigkeit eines Mitarbeiters auf weitere Fähigkeiten. Ein Beispiel für diesen so genannten Halo-Effekt: Ein Mitarbeiter ist eloquent, kann sich und seine Leistungen sehr gut präsentieren beziehungsweise verkaufen. In einem solchen Fall neigen insbesondere Vorgesetzte, die mit ihm nicht tagtäglich in Kontakt stehen, dazu zu glauben, er sei ein Top-Mitarbeiter. Selbst wenn seine Leistung in Wirklichkeit durchschnittlich oder gar unterdurchschnittlich ausfällt. Möglicherweise wird dieser Mitarbeiter dann sogar besonders gefördert oder auch befördert.
Das führt in der Konsequenz zur Frustration bei den eigentlichen Leistungsträgern, deren Leistung nicht angemessen genug gewürdigt wird. Für das gesamte Unternehmen wiederum besteht die Gefahr, dass solche Blender zunehmend eingestellt werden, auch als Führungskräfte. Ein Phänomen, das man bis vor wenigen Jahren in Konzernen sehr häufig beobachten konnte, weil deren Programme für Führungskräfteentwicklung primär smarte Karrieristen nach oben spülten. Inzwischen jedoch werden bei der Auswahl von „High Potentials“ andere Kriterien angelegt.
Der Kleber-Effekt
Führungskräfte schließen häufig auch aus bisherigen Leistungen ihrer Mitarbeiter auf deren künftige (Kleber-Effekt). War ein Mitarbeiter in der Vergangenheit zum Beispiel zuverlässig, motiviert und erfolgreich, nehmen viele Führungskräfte gar nicht wahr, wenn deren Leistung sinkt. Die Folge: Es erfolgt kein Gespräch über die Ursachen des Leistungsabfalls, was dazu führen kann, dass die Leistung dauerhaft sinkt, ohne dass das wahrgenommen wird.
Dasselbe kann umgekehrt passieren: Fiel ein Mitarbeiter einer Führungskraft erst einmal durch Minderleistung auf, schaut sie selbstverständlich genauer hin: Wie arbeitet der Mitarbeiter? Weil die Führungskraft das Bild eines schlechten Mitarbeiters im Kopf hat, findet sie in der Folge wohl auch stets Fehler und Dinge, die er besser machen könnte. Bei dieser Prägung fehlt jedoch der Blick auf das, was der Mitarbeiter gut gemacht hat beziehungsweise gut macht. Das wiederum ist für ihn frustrierend, weshalb er sein Bemühen einstellt, die eigene Leistung zu verbessern.
Der Nimbus-Effekt
Studien belegen: Attraktiven Menschen wird meist mehr Kompetenz zugeschrieben als weniger attraktiven. Dasselbe gilt für Personen, die in den Augen der Betrachter gut oder ihrer Position angemessen gekleidet sind. Auch hier kommt der so genannte Nimbus-Effekt zum Tragen. So assoziieren wir beispielsweise mit Personen, die einen Anzug und eine Krawatte tragen, oft Seriosität. Oft ist das jedoch ein Trugschluss. Umgekehrt unterstellen Führungskräfte eher laissez-fair gekleideten Mitarbeitern oft, sie seien auch im Job nachlässig, was genauso wenig zutrifft.
Noch stärker als das Aussehen wirkt sich auf die Beurteilung aus, welcher sozialen Gruppe eine Person erkennbar angehört – qua Geschlecht, kultureller oder nationaler Abstammung oder sozialer Herkunft. So haben auch Führungskräfte gewisse Stereotypen bezüglich Frauen und Männern im Kopf. Ebenso unterstellen wir Menschen aus dem asiatischen Kulturkreis fast automatisch, sie seien selbstbeherrscht und fleißig. Oder wir urteilen über Personen mit einer hohen Affinität zu Computern, sie seien so genannte „Nerds“ und damit soziophob. Solche Vorurteile haben wir fast alle mehr oder weniger bewusst verinnerlicht.
Diese beeinflussen, gleichsam wie die genannten Effekte, auch mehr oder weniger stark die Art, wie wir Personen wahrnehmen, beurteilen und uns ihnen gegenüber verhalten. Der einzige Unterschied: Manchen Menschen ist dies mehr, manchen weniger bewusst. Der Vorteil, wenn Führungskräfte ihre „blinden Flecken“ kennen: Sie können ihre Vorurteile, die sie aufgrund ihrer Herkunft oder Erfahrung haben, überprüfen, bevor sie ein Urteil fällen. So begehen sie weniger Beurteilungsfehler beziehungsweise Fehlentscheidungen bei der Einstellung von Mitarbeitern, die häufig nicht nur gravierende Folgen für die betroffenen Mitarbeiter selbst, sondern auch für das Unternehmen haben.