Führen und Führung als Missverständnis
Chef ist man nicht einfach so. Wer führt, muss seine Handlungen vor der Instanz verantworten, die ihm die Führungsvollmacht verliehen hat. Wer oder was diese Instanz ist, darüber haben Führungskräfte aber ihre eigenen Ansichten, in denen sich das Bewusstsein spiegelt, aus dem heraus sie führen. Vier Haupttypen lassen sich unterscheiden.
Es gibt Führungskräfte, die meinen, sie seien zum Führen geboren. Der Vorstand eines großen Konzerns hat mir einmal gesagt:
„Ach wissen Sie, Führen kann man nicht lernen, das hat man oder hat man nicht.“
Als ob ihn der Blitzstrahl seliger Erkenntnis bereits in der Wiege getroffen hätte. Diesen Führungsanspruch nennt man „Potestas divina“, die göttlich gegebene Macht. Entscheidungen sind nicht zu hinterfragen, es gilt, wie beim Papst, das Dogma der Unfehlbarkeit. Aber selbst die katholische Kirche hat diesen Anspruch nicht für jede Frage zugelassen. Ursprünglich war es ohnehin eher ein heidnischer Glaube, dass jemand von Gottes Gnaden zum Führen erkoren sei. Alles halb so wild, könnte man sagen. Wer jedoch in diesem Bewusstsein führt, lässt sich von niemandem kritisieren, außer vom lieben Gott. Einem Sterblichen fühlt er sich nicht verantwortlich.
Eine zweite Sorte Chef fühlt sich aufgrund von Besitz zur Führung berufen. Es handelt sich um die „Potestas paternalis“, die väterliche Herrschaft. Ein Brauereibesitzer sagte einmal zu mir im Brustton der Überzeugung:
„Ich habe mein Geschäft allein aufgebaut.“
Als ob es da nicht einmal einen Pförtner gegeben hätte, der ihm wenigstens ab und zu die Tore aufgeschlossen hat. Ein Chef mit solch einem Führungsbewusstein sagt auch Dinge wie: „Der Laden gehört mir, also kann ich damit machen, was ich will.“ Juristisch betrachtet hat er Recht. Ethisch betrachtet jedoch hat auch jeder Mitarbeiter seinen Anteil am Erfolg des Unternehmens. Führungskräften aber, die sich allein auf ihren Besitz berufen, sind in der Regel alle Formen der Mitarbeiterbeteiligung lästig. Das Ergebnis ist ein Führungsstil nach Gutsherrenart.
Eine dritte Legitimation zur Führung besteht darin, dass ich sie mir einfach aneigne. Jeder Diktator hat dies getan. „Potestas occupata“ nennt man das. Hier wird willkürlich geführt. Es gibt niemanden, dem ich Verantwortung schulde, nur mir selbst. Manche feindliche Übernahmen folgen diesem Prinzip. Es wird nicht gefragt, ob das übernommene Unternehmen einverstanden ist, sondern es wird einfach gemacht – und dabei übersehen, dass sich Menschen am besten von jemandem regieren lassen, den sie auf legale Weise wieder loswerden können.
Mitarbeiter übertragen Führung per Arbeitsvertrag
Ein vierter Typ Führungskräfte glaubt, Führungsvollmacht deshalb zu besitzen, weil ihre Mitarbeiter sie ihnen übertragen haben, indem sie einen Arbeitsvertrag unterschrieben. Wer nach dieser so genannten „Potestas delegata“ führt, verantwortet seine Entscheidungen folglich den Mitarbeitern gegenüber, nicht dem Kapitaleigner. Wer so führt, begründet seine Entscheidungen und hat Respekt vor seinen Leuten, weil er weiß, dass Führungserfolg nur durch ihr Engagement möglich ist. Tatsächlich suchen sich Mitarbeiter nicht nur durch ihre Unterschrift ihren Chef selbst aus. Sie lassen auch nicht zu, von jemandem geführt zu werden, von dem sie nicht geführt werden wollen.
Im gewerblichen Bereich ist das oft noch sehr unverstellt erkennbar. Wenn der Meister als Chef nicht akzeptiert wird, kann er noch so sehr Überstunden am Samstag fordern. Dann schauen alle auf den Gesellen, und erst wenn der nickt, kommen alle. Wenn nicht, ist eben bei allen die Oma krank. Für die Frage nach ethischer Legitimation ist es wichtig zu wissen, mit welcher Einstellung man seine Mitarbeiter führt. Denn die Einstellung liefert letztlich die Argumente, ob Entscheidungen okay sind oder nicht. Ein Chef mit der Haltung einer „Potestas delegata“ rechtfertigt seine Entscheidungen nicht nur anders als jemand, der sich für gottberufen oder allmächtig hält. Er steht auch vor der Instanz gerade, auf die es im ethischen Sinne am meisten ankommt: dem Mitarbeiter.