Führung von Personal durch Persönlichkeit statt Fachkompetenz
Wenn von Führen durch Persönlichkeit die Rede ist, drängt sich die Frage auf, wie sich denn sonst noch führen ließe, wenn nicht durch Persönlichkeit. Welche alternativen Quellen von Autorität hätte ein Führender zur Verfügung? Im Kontext der Organisation hat der Führende zunächst seine Position in der Hierarchie inne, um seinen Führungsanspruch zu untermauern. Diese gehört ihm jedoch nicht selbst, sondern wurde ihm nur auf Zeit verliehen. Außerdem entspringt diese Quelle von Autorität nicht originär dem Führenden, noch ist sie weder nachhaltig oder besonders geeignet, den Untergebenen beziehungsweise Mitarbeiter anzuspornen.
Sachkompetenz ist nicht gleich Führungskompetenz
Eine zweite, häufig bemühte Quelle von Führungsautorität ist das Fachwissen. Verkürzt ausgedrückt: „Ich weiß es besser, also folge mir!“ Auf den unteren Ebenen eines Unternehmens, wo es noch stärker „um die Sache“ geht, mag diese Gleichung noch stimmen, denn hier ist der Bezug zur Fachkenntnis besonders intensiv. Ein typisches Beispiel aus dem betrieblichem Alltag: Die beste Sachbearbeiterin wird Leiterin des Teams. Sachkompetenz ist demnach sicherlich eine wünschenswerte Bedingung für konstruktive Führung. Aber ist sie auch hinreichend?
Nein, denn eine hohe Sachkompetenz hat nicht unbedingt etwas mit dem Führen von Menschen zu tun. Eine übermäßige fachlich-inhaltliche Orientierung des Vorgesetzten fokussiert die Aufmerksamkeit auf das „richtige Tun“. Es geht in erster Linie darum Fehler zu vermeiden, doch dabei verkümmert die Innovationsfreude. Der Führende lädt die Mitarbeiter nicht zur Übernahme von Verantwortung ein (Chefsache), verteidigt die eigene Position durch Vorenthalten von Informationen (Wissen ist Macht), verstärkt das Team nicht durch Top-Performer und legt wenig Wert auf die Weiterentwicklung der Mitarbeiter – aus Angst um den eigenen fachlichen Vorsprung.
Lassen wir uns nicht täuschen: Der Fokus auf die Sache ist nicht nur ein Phänomen der Ebenen im Unternehmen, die noch mit der Bearbeitung dieser „Sachen“ beschäftigt sind. Das Denken in der Wirtschaft ist ganz grundsätzlich auf das ausgerichtet, was gemessen und gewogen werden kann – etwas Anderes kommt gar nicht in Betracht und wird in einer Diskussion nicht zugelassen. Wie kommt eine solche Einengung zustande, wo wir doch jedes Mal bei der Frage, was uns wirklich wichtig ist, kaum auf Messbares zu sprechen kommen? Hier dominieren Begriffe wie Anerkennung, Zuneigung, Freude oder Respekt.
Es liegt an dem nicht ausgesprochenen, aber unserem Denken zugrunde liegenden Bild von Unternehmen: das Unternehmen als Maschine. Der Siegeszug der Technik in den letzten zwei Jahrhunderten hat uns dazu verleitet, unbewusst Gedankenmodelle aus der Welt der Herstellung in die Welt des sozialen Miteinanders zu übertragen. Wir bilden das Unternehmen und seine Prozesse wie in einem Schaltplan ab, der Einzelne wird reduziert auf seine funktionale Aufgabe – ähnlich einem Zahnrad im Getriebe. Wird bei einer Führungskraft ein Defizit festgestellt, geht es in ein entsprechendes Training – und das Problem ist (scheinbar) behoben. Ganz nach dem Motto: Ab in die Werkstatt, danach läuft sie wieder, die Führungskaft. Selbst in den klassischen Modellen der Wirtschaft ist das menschliche Individuum in seiner Ganzheit durch den „Homo Oeconomicus“ längst weggedacht worden. Doch der Mensch ist nunmal keine Maschine!
Führungskräfte sind in ihrer Ganzheit gefordert
Die Grundthese dieses Artikels lautet deshalb: Je mehr sich der Führende über seine hierarchische Position und fachliche Funktion hinaus als Person zeigt, desto mehr wird er seine Wirksamkeit steigern sowie die Beziehung zu sich und zu anderen konstruktiv gestalten. Da es sich bei Führung um eine menschliche Wechselbeziehung handelt, tut der Führende gut daran, auch als Mensch sichtbar zu werden. Von je her ist der gesamte Prozess des Hineinwachsens in die Gesellschaft ein geführter: Vom Elternhaus, über den Kindergarten, die Schule, die Universität bis hinein in den Betrieb werden wir von anderen geführt. Dabei sind wir – insbesondere in der Rolle des Führenden – in unserer Ganzheit gefordert.
Beziehungen bauen Menschen emotional auf. Erst wenn die emotionale Beziehung zum Gegenüber hergestellt ist, können wir uns auf die Sache konzentrieren. Erst wenn das Vertrauen untereinander hergestellt ist, kommt es zu einem konstruktiven Miteinander. Doch zu wem kann ich eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen? Und was muss ich beim Anderen spüren, damit ich mich vertrauensvoll von ihm führen lasse? Hier lohnt der Blick zurück in eine Zeit, die von der Technik noch nicht so stark geprägt war: Im alten Europa war seit Aristoteles nicht nur von einer funktionalen Kompetenz (griech.: Logos), sondern auch von einer sozial-emotionalen (griech.: Pathos) und einer ethischen (griech.: Ethos) die Rede. Betrachten wir die Kompetenzen im einzelnen:
1. Logos
Wie schon angedeutet, braucht ein kompetent Führender zweifellos auch rationale und funktionale Kompetenzen. Die Kenntnis von Angebot und Nachfrage oder Trends im Markt und im Unternehmen müssen wahrgenommen und interpretiert werden. Entscheidungen sollten durch analytisches Denken, Methoden und Fachwissen so weit als möglich empirisch abgesichert sein. Diese machen jedoch nur einen Teil dessen aus, was Führung gelingen lässt.
2. Pathos
Den zweiten wesentlichen Aspekt würden wir modern als soziale beziehungsweise emotionale Kompetenzen (Stichwort: Soft Skills) bezeichnen. Dahinter steckt die Fähigkeit, Beziehungen, die emotional geknüpft werden, konstruktiv zu gestalten. Eine Beziehung beginnt beim eigenen authentischen Handeln, sprich: bei der guten Beziehung zu sich selbst. Dann kommt die Beziehung zur Sache, um die es geht. Erst die emotionale Beziehung (Identifikation) des Führenden zu seinem Thema lädt es für seine Geführten mit Bedeutung auf. Und schließlich geht es um die Beziehung zum Anderen, in diesem Fall zu den Geführten. Ein guter Führender kann Gemeinschaft herstellen, zwischen sich und anderen, aber auch zwischen den Mitgliedern einer Gruppe.
3. Ethos
Dritter und wesentlicher Aspekt der Führungspersönlichkeit ist eine normative oder ethische Kompetenz. Sie beantwortet die Frage nach dem Sinn unternehmerischen Handelns. Menschen stellen die Frage nach dem „Wozu“ jenseits von Umsatz- oder Renditezielen. Welchen Beitrag leisten wir zur Gesellschaft, zum großen Ganzen? Warum ist das wichtig, was wir tun? Erst wer als Führender auf dieser Ebene Orientierung für sich selbst gefunden hat, ist in der Lage, Anderen Orientierung zu geben. Modern gesagt: Es geht um die Integrität der Führungspersönlichkeit. Nicht auf das Verhalten kommt es an, sondern auf die alles entscheidende geistige Haltung, wie schon der ehemalige Spitzenbanker Alfred Herrhausen betonte.
Bis hier sollte klar sein: Für erfolgreiche Führung ist die Person als Ganzes gefordert – mit all ihren rationalen, emotionalen und ethischen Kompetenzen. Doch wenn es bei Führung vor allem um mich als Person geht muss die Frage lauten: Was kann ich tun, um meine Wirksamkeit als Führungskraft zu erhöhen?
Die „Ent-Wicklung“ der Persönlichkeit
Gefragt ist kein Training von Verhaltensmustern, sondern die persönliche Entwicklung des Führenden. Genauer gesagt geht es im wahrsten Sinne des Wortes um die „Ent-Wicklung“: ein Wickel wird weggenommen, um im Inneren etwas freizulegen, was vorher „umwickelt“ und im schlimmsten Fall „verwickelt“ gewesen ist. In die Arbeitswelt übertragen bedeutet das: Ich muss als Individuum jenseits der Rolle oder Funktion, die ich im Betrieb innehabe, sichtbar werden. Ich muss Anderen, den Mitarbeitern, etwas von mir anbieten, nur so lässt sich eine tragfähige und belastbare Brücke zwischen Menschen aufbauen. Eben diese Beziehung wird verstellt, wenn ich Anderen nur mit Techniken im Sinne von standardisierten Verhaltensweisen begegne.
Wohlgemerkt: Die Bewegungsrichtung von „Ent-Wicklung“ ist einem Training diametral entgegengesetzt. Es geht eben nicht darum, mehr Wissen oder Methoden von außen nach innen zu transportieren, sondern das, was im Inneren vorhanden ist, im Außen sichtbar werden zu lassen. Auch hier führt das bereits erwähnte Maschine-Modell in die Irre. Wie aber lässt sich eine persönliche Entwicklung anstoßen? Diese Frage schlägt wiederum den Bogen zu unserer humanistisch geprägten Denktradition, denn die Antwort ist uns in Europa seit Jahrtausenden bekannt: „Erkenne dich selbst!“ stand schon im alten Delphi über der Pforte. Das Orakel gab denen, die nach Entscheidungshilfen oder nach ihrer Zukunft fragten, schon im Vorfeld den Hinweis, wo die Antworten zu finden sind: in sich selbst.
Die Erhöhung der Wirksamkeit einer Führungskraft gelingt nur über die Bildung von Persönlichkeit, nicht über die Ausbildung fachlicher Fähigkeiten. Der humanistische Bildungsdreiklang von Körper, Seele und Geist zeichnet eine Landkarte über die Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung:
1. Muße finden (Seele)
Wir gehen als Menschen durch unterschiedliche Phasen im Leben. Schulzeit (griech.: scholé für Muße, Ruhe) und Studium sind fast automatisch von persönlichem, innerem Wachstum geprägt. In der Phase des Berufs und der Elternschaft fokussieren wir uns jedoch typischerweise auf das Wirken im Außen. Daher gilt: Schaffen Sie sich Inseln im Alltag, die nicht durch Ziele, Termine oder Ergebnisse gekennzeichnet sind! Diese Zeit ist zweckfrei, aber nicht sinnlos. Es ist Zeit, um einfach nur sein zu können und die Seele baumeln zu lassen. Zeit für Selbstreflexion – ohne jeden Leistungsdruck.
2. Dialog suchen (Geist)
Suchen Sie die persönliche Begegnung mit anderen Menschen! So kommen Sie in ein „Miteinander-Denken“: Sie erkennen das (fremde) Denken des Anderen und reflektieren gleichzeitig Ihr eigenes. Hier sind keine Diskussionen gemeint, in denen unterschiedliche Meinungen gegeneinander gesetzt werden. Vielmehr geht es um einen Dialog (griech.: dia: (da)zwischen, Logos: Bedeutung, Sinn), in dem Sie sich Ihren Denkprozess bewusst machen. Besonders inspirierend: Die Begegnung mit (den eigenen) Kindern. Bei Kindern müssen wir uns auf eine sehr unmittelbare Form der Kommunikation einlassen und unsere Masken ablegen. Älteren oder bedürftigen Menschen zu helfen kann unseren Bezug zum Anderen ebenfalls bereichern.
3. In Debattier-Clubs eintreten (Geist)
Logisch denken, Sachlagen schnell erfassen, schlüssig argumentieren, schlagfertig sein: All das sind wichtige rationale Kompetenzen, die im beruflichen Alltag gefordert sind. Diese werden in hohem Maße im Rahmen von strukturierten Debatten trainiert. Anders als in den USA und in England sind die Debattier-Clubs an unseren Universitäten ab Mitte des 19. Jahrhunderts verschwunden. Derzeit erleben sie an unseren Hochschulen eine kleine Renaissance. Eine spannende Alternative zum Debattier-Club kann in einem politischen Engagement bestehen.
4. Persönlichkeitsentwickelnde Seminare besuchen (Geist)
Neben den üblichen Trainings bieten Unternehmen ihren Führungskräften auch persönlichkeitsentwickelnde Seminare an. Diese haben nicht nur fachliche Fertigkeiten, sondern das Wachstum der Person im Kontext der Führung im Blick.
5. Auf die eigene Sprache achten (Geist)
Tauschen Sie das Wort „man“ gegen „ich“ ein und ersetzen Sie passive Satzkonstruktionen wie „Ich wurde gebeten“ gegen aktive wie „Ich bin hier, weil…“! Teilen Sie Anderen mit, wie es Ihnen geht und was Sie in dieser oder jener Situation empfinden. Es ist oftmals überraschend, wie klärend eine emotionale Selbstbekundung wirken kann, gerade weil wir uns in unserer Kultur so gerne allein auf die Sache beschränken.
6. Sich mit Kunst beschäftigen (Geist)
Nicht umsonst ist oft von „bildender“ Kunst die Rede. In diesem Zusammenhang geht es nicht um deren Konsum, sondern um die eigene Gestaltung. Egal ob es sich um Malerei, Musik oder Tanz handelt – stellen Sie sich die Frage: Wie kann ich dem, das mich (und andere) innerlich bewegt, Ausdruck geben? Wie komme ich an meine schöpferischen und gestaltenden Potenziale?
7. Bezug zum eigenen Körper herstellen (Körper)
Die Wahrnehmung des Anderen fängt bei meiner Selbstwahrnehmung an, denn die Präsenz der Führungsperson geht über den Körper. Wir beziehen uns hier nicht auf leistungsorientierten Sport. Es reicht schon, bewusst zu gehen, zu sitzen oder zu hören. Sich mit verbundenen Augen 20 Minuten führen lassen. Wenn Sie Spaß daran haben, besuchen Sie Yoga- oder Tai-Chi-Kurse!