FührungskompetenzWarum Charisma allein nicht reicht
Charisma wird überall dort ein hoher Stellenwert zugeschrieben, wo die Wirkung von Botschaften über den Erfolg mitentscheidet. Zur Freude der Charismatiker. Zum Beispiel in der Wirtschaft: Führungskräfte, heißt es, müssen heute charismatisch sein. Alle Kompetenz nütze nichts, wenn die Mitarbeiter niemanden haben, dem sie folgen können. Nicht anders in der Politik: Kaum kriselt es in einer Partei, wird der Ruf nach einer charismatischen Führungspersönlichkeit laut, die die Wähler mitreißen kann. Überhaupt verkaufen uns die Medien Charisma als Schlüssel zum Erfolg. Doch holen wir das Charisma einmal auf den Boden der Realität zurück: Wie bereitwillig folgt jemand einem Chef, der sich vor allem gern selbst reden hört?
Charisma sagt nicht immer etwas über die Leistung aus
Schon vor vielen Jahren hatte Fredmund Malik einen interessanten Aspekt in die lange einseitig geführte Charisma-Debatte eingebracht: Charismatische Menschen haben im Durchschnitt eher ein Problem damit Leistung abzurufen als andere. An den amerikanischen Präsidenten lässt sich das besonders gut nachvollziehen. Zum Beispiel Ronald Reagan, der Schauspieler. Er machte stets eine gute Figur, konnte seine Landsleute mitreißen und hatte immer einen geistreichen Scherz auf Lager. Seine politische Bilanz aber hält sich in überschaubaren Grenzen. Reagan baute seine Popularität vor allem auf seinem missionarischen Stolz auf, Amerikaner zu sein.
Oder Barack Obama: Ein brillanter Redner. Was ihm zum Sieg gegen den vergleichsweise blassen republikanischen Kandidaten McCain verhalf, war seine Ausstrahlung. Er vermochte es, den Wählern glaubhaft zu vermitteln, dass er Amerika nachhaltig verändern könne. Durch sein charismatisches Auftreten erweckt er große Sympathie. Doch diese sorgt auch dafür, dass er in der breiten Öffentlichkeit bisher weniger streng bewertet wurde als der verbal raubeinige George W. Bush. Obama lässt man es bisher zum Beispiel ohne großen Aufschrei durchgehen, eines seiner wichtigsten Wahlversprechen von 2008 bis heute nicht eingelöst zu haben: die Schließung des Gefangenenlagers Guantanamo. Gerade dieses Versprechen hatte aber das Wahlergebnis damals maßgeblich beeinflusst. Warum also ruft die Wirtschaft noch immer nach charismatischen Führungskräften, wo doch einige Blender schon genug Schaden angerichtet haben?
Fredmund Malik fand schon 1999 in einem Handelsblatt-Artikel deutliche Worte für den damals in Redner-Kreisen aufbrandenden Hype um Charisma: „Nirgendwo sonst wird so viel geistiger Schrott publiziert wie in der Managementliteratur. So etwas wie kritische Argumentation ist selten zu finden. Nun aber auch noch Charisma: Damit wird der Unsinn gefährlich. Sollte man nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht etwas vorsichtiger sein?“
Charisma verführt statt zu führen
Die Beispiele, die Malik auf diese Frage folgen lässt, stellen Charisma in ein unrühmliches Licht. Sie werfen noch schwärzere Schatten auf den Begriff als das Leistungsproblem. Man denke nur an Hitler, Stalin oder Mao. Sie bilden ein geradezu absurdes Gegenbild zu den Chariten, die Göttinnen der Anmut, die im antiken Griechenland für Charisma standen. Malik führt auch den britischen General Montgomery als Beispiel an – als „Draufgänger, ein Held, der mit gezogenem Säbel der Truppe voranstürmte“. Seine Truppen rannten ihm bereitwillig hinterher. Der Management-Experte schlussfolgert über diese Art der Gefolgschaft: „Sie tun es eben aus Neugier und nicht aus Vertrauen.“
Die Argumentation korreliert mit einer Theorie des Soziologen Max Weber. Er bezeichnet Charisma – neben der traditionalen und der rationalen – als eine von drei Formen von Herrschaft. Ein charismatischer Führer erlangt seine Gefolgschaft demnach nicht durch deren soziale Interessen oder soziale Herkunft, sondern durch seinen Magnetismus, sein Charisma. Auch Weber betonte die Gefahr, die von solchen Führern ausgeht: Sie fänden gerade dann leicht Anhänger, wenn die bewährten politischen Rezepte einmal versagt haben; denn sie seien gut darin, sich als Verkörperung einer neuen Botschaft zu inszenieren.
Charismatische Führer sind vor allem Verführer – und damit ein Risiko. Dies gilt auch in der Wirtschaft. Bevor wir also nach Charisma in der Führung rufen, sollten wir innehalten: Wollen wir wirklich Leader, denen die Mitarbeiter wegen ihrer Ausstrahlung folgen? Oder doch lieber solche, die durch ihre Zuverlässigkeit, ihren Fleiß und ihre Kompetenz ein gutes Beispiel abgeben? Malik gibt darauf eine eindeutige Antwort: Das Kapital echter Führer ist nicht Charisma, sondern Vertrauen.
Charisma macht noch keinen guten Redner
Rhetorik, die Kunst der freien Rede, steht und fällt nicht mit dem Charisma des Redners. Rhetorik ist ein Handwerk, das man lernen kann – und eine Kunst, die Schweiß erfordert. Wenn sie gut ist, beruht sie auf Inhalten, auf der richtigen Argumentationstechnik, auf Körpersprache oder auf dem Einsatz der Stimme. Charisma dagegen kann man nicht lernen. Schon der Begriff weist darauf hin: Das griechische Wort „chárisma“ heißt übersetzt Gnadengabe. Es ist keine Kompetenz, keine Methode, und lässt sich auch nicht trainieren. Deshalb führt es in wirklich anspruchsvollen Positionen auch selten langfristig zu messbarem Erfolg in Form von Ergebnissen. Die effektivsten der charismatischen Führer erzielten zwar große Wirkung – doch die war in höchstem Maße destruktiv.
Dass wir dennoch immer wieder charismatische Menschen in Führungsrollen sehen, hängt auch damit zusammen, dass sie sich besonders gut aus einer Bredouille herauslavieren können. Viele von ihnen sind es seit ihrer Kindheit gewöhnt, mit allem davonzukommen. Stehen solche Menschen plötzlich in der Verantwortung, können sie durch ihren Sympathie-Bonus manche Kritik aushebeln, die einem weniger charismatischen Entscheider möglicherweise zum Verhängnis würde. Auch deshalb sind sie mit einem Risiko behaftet, wenn es wirklich auf sie ankommt: Sie interessieren sich im Zweifel weniger für die Belastbarkeit ihrer Inhalte, weil das für die Verführung von Menschen irrelevant ist.
Verlässlichkeit und Sachlichkeit statt Charisma
Es gibt jedoch keine gefährlichere Eigenschaft als die Gabe der Verführung ohne das Gefühl für Verantwortung. In der Rhetorik ist es ähnlich: Charisma macht noch keinen guten Redner. Nachhaltige Wirkung kann nur erzielen, wer Substanz zu bieten hat.
Als wirkungsvoll und als Indikator für Leistung erweisen sich andere Eigenschaften. Nämlich die vermeintlich langweiligen, die in der Berichterstattung der Medien selten Erwähnung finden: Bodenständigkeit, Sachlichkeit und Verlässlichkeit. Statt nach Charisma zu rufen, täten wir bei der Besetzung von Schlüsselpositionen und bei der Bewertung von Entscheidern gut daran, echte Substanz einzufordern – fachlich wie auch charakterlich.