Innovationen entwickeln und Scheitern zulassen
Herr Meyer, wie kamen Sie auf die Idee, ein Handbuch für Marktrevolutionäre zu schreiben?
Ich habe in den letzten Jahren als Innovationsberater drei Dinge beobachtet. Erstens: Viele Unternehmen erzeugen trotz immenser Innovationsbemühungen stets nur Varianten des Bestehenden. Zweitens: Viele Unternehmen erdrücken die Kreativität ihrer Mitarbeiter statt sie zu fördern. Drittens: Viele Geschäftsführer und Vorstände sind genau damit unzufrieden. Der ausschlaggebende Punkt war, dass ich in einer Woche drei Mal das gleiche Gespräch mit Vorständen verschiedener Unternehmen führte. Alle sagten: Wir müssen weiterdenken, schaffen es aber nicht.
Wie schaffen es Unternehmen weiterzudenken?
Visionäre Ziele formulieren, von denen noch nicht klar ist, ob sie wirklich erreicht werden können. Kleine, entschlossene Teams voller Leidenschaft an diesen Zielen arbeiten lassen, die eigenen Prozesse sprengen und es zulassen, dass Innovationsteams eigene Wege gehen. Oder anders formuliert: mehr Mut zum Experimentieren und ein Scheitern, wenn es sich nicht vermeiden lässt, feiern statt bestrafen.
Klingt ein wenig realitätsfremd ...
Ganz und gar nicht. Wir schauen heute immer wieder erstaunt auf Unternehmen wie Google und fragen uns, wie die so einen Erfolg haben können. Genau so. Als „Google Wave“, eines der großen teuren Entwicklungsprojekte, scheiterte, gab es eine Abschiedsparty. In anderen Unternehmen wären Köpfe gerollt. Der indische Tata-Konzern zeichnet sogar gescheiterte Innovationen aus – als Belohnung dafür, dass die Mitarbeiter versucht haben weiterzudenken.
Warum fehlt dieser Mut vielen Unternehmen, nicht nur im deutschsprachigen Raum?
Weil wir eine Managergeneration haben, die mit Methoden der Achtziger- und Neunzigerjahre ausgebildet wurden. Ich selbst gehöre dazu. Mein MBA-Studium bestand zu 90 Prozent aus Prozessen. Die meisten Prozesse dienen dazu, Dinge besser zu organisieren und Fehler zu vermeiden. Diese Kultur der Fehlervermeidung eignet sich in vielen Bereichen sehr gut, nur eben nicht im Bereich von wirklich Neuem. Dort gehören Fehler zum Lernprozess dazu.
Steht also im Management ein neues Zeitalter an?
Zumindest ein vielfältigeres. Die alten Methoden haben weiterhin ihre Berechtigung, doch ich kenne viele Unternehmen, die zurzeit radikal umdenken und sich für Neues öffnen. Schauen Sie sich nur die Packstationen von DHL an. Das war am Anfang ein Guerilla-Team von vier Personen, die konsequent sämtliche Regeln gebrochen haben. Solche Ansätze werden wir in Unternehmen künftig häufiger finden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie eine besondere Unternehmensspezies: die „Innosaurier“. Was sind das für Unternehmen?
„Innosaurier“ sind vor allem behäbig. Sie haben sich durch eine teils ausufernde Bürokratie selbst gelähmt. Vor allem dort, wo kreative, neue Lösungen gefunden werden müssen, haben sie Verwaltungsprozesse etabliert anstatt ihre Mitarbeiter zu inspirieren. Bei „Innosauriern“ wird Neues systematisch zerredet. Es wird solange analysiert, bis von der ursprünglichen Idee fast nichts mehr übrig ist. Am Ende geht das Unternehmen nur kleine Schritte. Anders gesagt: Am Anfang will es zum Mond fliegen, am Ende reicht es gerade einmal für eine Pauschalreise nach Mallorca.
Sie beziehen sich auch auf die Unternehmen Saturn und Media Markt. Sind das überhaupt noch innovative Unternehmen?
Beide sind hochinnovativ innerhalb des Bereichs, in dem sie stark sind: Einzelhandel mit Filialen vor Ort. Media Markt und Saturn wird es wahrscheinlich auch in zehn Jahren noch geben, aber das große Wachstum findet derzeit im Internet statt. Diesen Trend haben beide Unternehmen jahrelang verpasst. Seit Mitte des letzten beziehungsweise Anfang dieses Jahres haben sie zwar Online-Shops, doch Hauptkonkurrenten wie Amazon haben mehr als 15 Jahre Vorsprung. Im Internet sind Saturn und Media Markt fast auf dem Niveau eines kleinen Handwerkers stehengeblieben. Die beiden Märkte sind ein gutes Beispiel dafür, wie Unternehmen hochinnovativ sein können und trotzdem den Anschluss verpassen.
Wie kommt dieser Widerspruch zustande?
Er entsteht, wenn sich Unternehmen ausschließlich auf eine Art von Innovation konzentrieren, nämlich die inkrementelle. Dabei wird die grundsätzliche Geschäftsidee nicht in Frage gestellt, sondern immer nur weiterentwickelt. Es werden keine neuen Märkte entwickelt, sondern nur die alten mit immer besseren Methoden bedient.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer Innovationsfalle. Wie viele Unternehmen sind darin gefangen?
Wir führten im letzten Jahr eine Studie unter 200 Innovationsverantwortlichen durch. Grob kann man sagen, dass drei von vier Unternehmen sich ausschließlich auf inkrementelle Innovation konzentrieren. Damit stecken sie nicht automatisch in der Falle, aber sie sollten überprüfen, ob sie nicht wertvolle Chancen verpassen oder sogar langfristig ihre Existenz gefährden.
Aber wie kann ich als Unternehmen erkennen, ob radikale Innovationen notwendig sind?
Im Wesentlichen sind es drei Faktoren: Wenn ein Unternehmen nicht wachsen will, seine bestehenden Produkte und Geschäftsmodelle noch lange für sichere Einkünfte sorgen und seine Märkte stabil sind, braucht es über radikale Innovation nicht nachzudenken. Wenn ein Unternehmen aber wachsen will, seine Märkte weitgehend gesättigt sind und seine Top-Manager das Gefühl haben, dass sich in Zukunft dramatisch etwas ändern könnte, dann ist radikale Innovation fast schon der einzige Weg.
Herr Meyer, vielen Dank für das Gespräch.
Hinweis
Jens-Uwe Meyer ist Autor des Buchs Radikale Innovation: Das Handbuch für Marktrevolutionäre.