MotivationSchwächen sind nur untrainierte Fähigkeiten
Vor einigen Jahren startete der amerikanische Psychologie-Professor Gary Marcus einen Selbstversuch. Obwohl er sich zeitlebens als nicht sonderlich musikalisch empfunden hatte, griff er im Alter von 40 Jahren erstmals zur Gitarre. Ausgangsfrage: Was ist erlernbar, was Talent und damit Teil der neuronalen „Hardware“? Das Ergebnis fasst Marcus trocken zusammen: „Ich wollte wissen, ob jemand, der kein musikalisches Talent hat, überhaupt ein Instrument lernen kann. Und ich konnte es lernen. Aber eben nicht so schnell wie Jimi Hendrix.“
Bei seinem „Experiment“ ging es Marcus unter anderem um die Frage, zu welchen Anteilen regelmäßiges Üben bestimmter motorischer oder kognitiver Fertigkeiten und das, was wir gemeinhin als Talent bezeichnen, für den erreichten Grad von Können verantwortlich sind. Darüber hinaus fragte er sich, was Talent eigentlich ist. Er kam zum Ergebnis: Auch die Tatsache, wie viel jemand übe, könne ebenfalls genetisch bedingt, Interesse also auch eine Form von Talent sein.
Wer für eine Sache brennt, ist automatisch motiviert
Schon lange streiten sich Psychologen, Neurologen und Biologen in Bezug auf menschliches Verhalten und Kompetenzen über die Antwort auf die Frage: Was ist genetisch bedingt und was erworben? Das Problem: Wer an den Begriff „Talent“ denkt, lässt sich oftmals entmutigen, sich gar nicht erst an die Entwicklung von Kompetenzen heranzuwagen. Damit lässt er vermeintliche „Schwächen“ über das Erreichen von Karrierezielen oder die Erfüllung persönlicher Ziele entscheiden.
Doch es spielt keine Rolle, ob es sich bei der benötigten Kompetenz um das Spielen eines Instruments handelt, das Sprechen einer Sprache, das Bedienen eines Computerprogramms oder die Fähigkeit, andere anzuleiten und klar die Richtung vorzugeben. Gary Marcus weist zu Recht darauf hin, dass Begeisterung, Enthusiasmus und Interesse vielleicht die einzigen Formen von Talent darstellen, die tatsächlich eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen und die Ausübung einer bestimmten Tätigkeit sind. Wer für etwas brennt, wird viel eher bereit sein, ausdauernd und ohne Motivationseinbrüche dafür zu arbeiten.
Motivation ist ein komplexes Konstrukt
Aber wie kommt es dazu, dass wir für etwas brennen? Wieso empfindet der eine einen starken Drang, Visionen zu verwirklichen und Menschen anzuleiten, während der andere Ideen bis ins letzte Detail am liebsten in Ruhe ausarbeitet, ständig perfektioniert und keine Lust hat, anderen zu sagen, was sie tun sollen? Wieso ist einem Dritten vor allem an Kontakten und Kommunikation gelegen, während wieder ein anderer genügend Raum für eigene Entscheidungen braucht?
Menschliche Motivation ist ein komplexes Konstrukt. Jeder, der Führungsverantwortung trägt oder übernehmen möchte, will ihrem Geheimnis auf die Spur kommen. Die Wissenschaft beschäftigt sich seit dem frühen 20. Jahrhundert dezidiert mit dem Thema. Insbesondere die behavioristische Psychologie interessierte sich für die Frage, was echte Motivation ausmacht.
Fünf Motiv-Typen mit Stärken und Schwächen
Erst 1961 formulierte der amerikanische Verhaltens- und Sozialpsychologe David McClelland die bis heute für das Verständnis von Motivation schlüssigste Motivtheorie: Menschliches Verhalten ist fast komplett auf eines der drei Motive Leistung, Freundschaft oder Macht zurückzuführen. Für die unternehmenspraktische Arbeit erscheint diese Klassifizierung aber zu wenig nuanciert. Deshalb soll das Machtmotiv zusätzlich in die von McClelland als Subkategorien eingestuften Varianten „Autonomie“, „Wettbewerb“ und „Vision“ unterteilt und so zwischen insgesamt fünf Motiven unterschieden werden. Daraus ergeben sich fünf Motiv-Typen mit jeweils charakteristischen Stärken-Schwächen-Profilen:
Der Leistungsmotivierte
Er wird sich bis zur Selbstaufgabe für die stetige Verbesserung seiner Kompetenz und Resultate einsetzen. Allerdings bringt er wenig intrinsische Neigung mit und investiert wenig Zeit in die Pflege guter Beziehungen zu seinen Mitstreitern, was diese irritieren kann.
Der Freundschaftsmotivierte
Dieser Typ legt es auf die Pflege guter Beziehungen an und bringt diese Fähigkeit im Überfluss mit. Dafür wiederum können ihm sein Mangel an Durchsetzungsvermögen und sein Harmoniebedürfnis im Weg stehen.
Der Autonomiemotivierte
Dieser Typ kann sich ausgezeichnet selbst anspornen und Ziele konsequent verfolgen. Er empfindet es aber häufig als ungerechtfertigte Einmischung, anderen klare Vorgaben zu machen.
Der Wettbewerbsmotiviere
Er hat zu Unrecht einen schlechten Ruf, denn sein angeborener Drang zum Kräftemessen und seine Entscheidungsstärke können unbezahlbar sein, wenn es darum geht, ein neues Produkt an den Start zu bringen oder eine Krise zu bewältigen. Gerade die emotionale Art, die diesem Typ das nötige Charisma verleiht, um andere auf sich einzuschwören, macht ihn aber auch anfällig und angreifbar.
Der Visionsmotivierte
Dieser Typ ist enorm leistungsfähig und kennt keine Selbstschonung, wenn er auf ein Ziel zusteuert, das er objektiv für wichtig hält. Die Gefahr: Er mutet sich zu viel zu und verliert den Blick dafür, dass andere die eigene Vision nicht teilen oder ihr nicht dieselbe Bedeutung zumessen.
Wie intrinsische Motivation entsteht
Auch Stellenprofile lassen sich in diese Kategorien einsortieren. Eine Fachkräfteposition, die Sachkenntnis und Gründlichkeit verlangt, erfordert ein höheres Leistungsmotiv als eine Abteilungsleiterstelle ohne fachliche Aufgaben, für die eher Organisations- und Delegationskompetenz gefragt sind. Intrinsische Motivation stellt sich dann ein, wenn die Passung zwischen dem Motiv oder den Motiven – es gibt nur wenige „Reinformen“ der fünf Typen – einer Person und den Anforderungen einer bestimmten beruflichen Rolle möglichst hoch ist.
Anreize können intrinsische Motivation nicht ersetzen. Wenn Menschen ausbrennen, liegt das in aller Regel weniger an einer objektiv zu hohen Arbeitslast als an einer zu geringen Übereinstimmung zwischen Motiven und Aufgabenprofil. Umgekehrt lässt sich beobachten: Menschen, die für etwas brennen, entfalten eine hohe Leistungsfähigkeit und können scheinbar unermüdlich für ihr Projekt arbeiten. Konfuzius sagte nicht umsonst: „Wähle einen Beruf, den Du liebst, und Du musst keinen Tag mehr arbeiten.“ Anders ausgedrückt: Außer Interesse – dieser so wichtigen Form von Talent – ist eigentlich alles erlernbar.
Etwas zu erreichen, was einem nicht „in die Wiege gelegt“ wurde, ist allerdings eine Herausforderung. Konfrontiert man Menschen auf der Suche nach Karrieretipps mit der Motivlehre, so lassen sich oft folgende Reaktionen beobachten:
- Kann ich als Freundschaftsmotivierter niemals Führungsverantwortung übernehmen?
- Muss ich mich als Visionsmotivierter von der Vorstellung verabschieden, fachlich zu brillieren?
- Kann ich als Leistungsmotivierter nie lernen, innezuhalten, meine Erfolge auch zu genießen und nicht gleich zum nächsten Gipfel aufbrechen zu wollen?
Schwächen sind noch nicht erlernte Fähigkeiten
Die Antwort auf diese Fragen lautet: Doch, das geht. Nur können wir unsere Motivstruktur nicht von heute auf morgen ändern. Dafür können wir unsere so genannten „Schwächen“ gezielt bearbeiten, weshalb wir in der Praxis auch lieber von Entwicklungsfeldern sprechen. Denn letztlich ist eine „Schwäche“ auf dem Gebiet nichts weiter als eine Fähigkeit, die noch nicht erlernt oder noch nicht genügend trainiert wurde. Wer sich also für die Übernahme einer Führungsrolle interessiert, jedoch feststellt, dass er in entscheidenden Situationen öfter klein gemacht wird, dass es ihm schwerfällt, deutliche Aussagen zu treffen oder Konsequenz zu zeigen, sollte genau daran arbeiten.
Doch zurück zu Gary Marcus und seiner Gitarre. Musikinstrumente werden von Musikern scheinbar mühelos beherrscht. Unser Gehirn hat die Fähigkeit, Prozesse derart zu verinnerlichen, dass sie irgendwann Teil unserer neuronalen Struktur sind und als Automatismus abgerufen werden können. Wir entwickeln eine Art „motorisches Gedächtnis“, das es uns erlaubt, ohne nachzudenken die richtigen Töne zu treffen. Ähnlich ergeht es uns beim Lernen ein Auto zu fahren. Was zunächst kompliziert erscheint wie Kuppeln, Gas geben und Bremsen, wird für uns schon nach kurzer Zeit selbstverständlich.
Nur die Wenigsten machen sich klar, dass dieses Prinzip eins zu eins auf die so genannten Soft Skills übertragbar ist. Denn nein zu sagen oder stärker auf den Gegenüber einzugehen, lässt sich genau so trainieren wie ein Akkordwechsel oder Autofahren. Wie bei jedem anderen Lernprozess auch geht es darum, sich weder zu unter- noch zu überfordern, regelmäßig zu trainieren, Erfolge zu belohnen, sich realistische Etappenziele auf dem Weg zum eigentlichen Ziel zu setzen, sich Feedback und Unterstützung zu holen oder vom Wissen anderer zu profitieren – und immer wieder zu üben.
Vermeintliche Schwächen können Vorteile sein
Mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren konnten Wissenschaftler nachweisen, dass es kaum wirklich unmusikalische Menschen gibt. Eine Disposition zur Musikalität scheint uns ebenso angeboren zu sein wie die Fähigkeit zu sprechen. Wir besitzen eine „Hardwarekonfiguration“, die es uns erlaubt, Worte zu Sätzen zu strukturieren oder Melodien und Rhythmen zu erfassen und zu reproduzieren. Der Rest ist Training. Es ist Allgemeinwissen, dass Musikinstrumente technisch besser, fremde Sprachen akzentfreier erlernt werden können, wenn im Kindesalter mit entsprechenden Übungen begonnen wird.
Dies bedeutet aber nicht, dass diese Fähigkeiten später nicht mehr erlernt werden können oder dass mangelnde technische Perfektion ein Manko ist. Kelly Deal, mehrfach als eine der größten Gitarristinnen ausgezeichnet, lernte das Spielen „erst“ mit 31 Jahren. Ihre technische Unvollkommenheit wurde nicht nur durch ihre Leidenschaft und Ausstrahlung aufgewogen, sondern stellte für viele Zuhörer einen besonderen Reiz dar.
Auch Führungseigenschaften lassen sich trainieren
Auch in Sachen Führungskompetenz ist Authentizität ein entscheidender Faktor. Wer sich etwa nicht als das geborene Alphatier empfindet, kann diese Führungseigenschaften trotzdem konsequent trainieren. Und sich so glaubwürdiger und überzeugender machen. Niemand sollte sich also einreden lassen, etwas nicht zu können, weil er oder sie dafür zu alt, zu unerfahren oder falsch ausgebildet ist. Selbst über Jahrzehnte eingespielte Verhaltensstrukturen lassen sich ändern, wenn auch nicht auf Knopfdruck und nicht ohne regelmäßige Übung. Zeit, Wille, kompetente Anleitung und eigenes Engagement sind dafür die Schlüsselfaktoren.
Das Erkennen und die Akzeptanz von vermeintlichen Schwächen als Entwicklungsfelder, die im Zug von Lernprozessen bearbeitet werden können, erleichtert auch Führungskräften den Umgang mit entsprechendem „Nachholbedarf“ bei Mitarbeitern. Je klarer Führungskräfte identifizieren können, welche Motive ihr Mitarbeiter mitbringt und an welchen Stellen seine Aufgabe Verhaltensmerkmale anderer Motive erfordert, desto gezielter können sie geeignete „Trainingsmaßnahmen“ auswählen und anbieten.
Fazit
Nicht jeder, der Rockmusik mag und spät zur Gitarre greift, wird ein Jimi Hendrix. Und nicht jeder, der sich für Führungsthemen und visionäres Denken interessiert, wird ein Steve Jobs. Auch diese beiden Persönlichkeiten hatten zum Teil gravierende „Schwächen“. Doch sie hoben sich wiederum durch andere spezifische Persönlichkeitsprofile von der Masse ab. Jeder von uns ist in seinen Stärken, Schwächen und Potenzialen vollkommen einzigartig. Niemand bestreitet, dass die Gefahr, einen Rückschlag zu erleiden, ein Ziel zu verfehlen oder zu scheitern, Teil menschlichen Handelns ist. Die Gründe dafür liegen aber oft in einer Verkettung von Umständen. An „Schwächen“ oder mangelndem Talent scheitert nur der, der es selbst zulässt.