OrganisationWie muss Führung zukünftig aussehen?
Unternehmen brauchen eine starke Führung, um die Probleme der Zukunft zu lösen. Diesen Satz hört man oft. Gleichzeitig aber lähmen Streitereien zwischen den Platzhirschen um Macht die Organisationen. Dann wird die Kehrseite von Führung sichtbar und es stellen sich Fragen: Wie kann man den Umschlag von Führungsmacht in Herrschaftssicherung vermeiden? Braucht man heute wirklich noch solche Führungssysteme, die sich primär selbst beschäftigen? Und: Wird nicht zu viel Kult um ein Führungsideal gemacht, das vielleicht nicht mehr funktioniert? Unbeantwortet bleibt nach wie vor die Frage: Lassen sich komplexe Organisationen wirklich führen?
Lassen sich komplexe Organisationen führen?
In ihren Analysen zu komplexen Organisationsstrukturen zeigten die Systemforscher Frederic Vester und Dietrich Dörner, wie schwierig steuernde Eingriffe in vernetzten Systemen sind – unabhängig davon, ob es sich um Unternehmen, Kommunen oder Staaten handelt. Dörner ging das Thema experimentell an. Dabei wurde immer wieder evident, wie selten einzelne, auf sich allein gestellte Entscheider in komplexen Situationen gute Lösungen finden und wie schnell sie Systeme zum Scheitern führen.
In der aktuellen Management-Literatur, wie zum Beispiel bei Fredmund Malik, wird jedoch immer noch stark auf die Führungskraft abgestellt. Malik orientiert sich dabei am Begriff Management, und dies sei, so sein Credo, wie jede andere Profession erlernbar. Schlüsselfunktionen eines gelingenden Managements sind für ihn Ressourcen-Orientierung, der Beitrag zum Ganzen, die Konzentration auf Weniges, das Nutzen von Stärken, Vertrauen sowie positives Denken. Damit gelingt es ihm, Führung zu entmythologisieren und enger funktional zu beschreiben.
Breiter und differenzierter stellt sich die Frage nach Führung bei Oswald Neuberger. Er widmet sich der Problematik von Führung in komplexen Systemen und sieht beispielsweise den Ansatz der Schweizer Ökonomen Peter Gomez und Gilbert Probst kritisch, die glauben, mit einer einfachen Steuerungsstruktur komplexe Systeme steuern zu können. Doch auch das Werk Neubergers beantwortet die Frage nach der Legitimation von Führung nicht überzeugend. Eine Alternative zum bisherigen Führungssystem hat er in seinem Standardwerk nicht entwickelt.
Bei Organisationen, die einfache, monokausal funktionierende Systeme sind, ist es durchaus vorstellbar, dass die richtige Führungskraft an der richtigen Stelle die Organisation gut steuert. Und unbestreitbar lassen sich auch heute noch Betriebe nach dem Prinzip pyramidaler Steuerung aufbauen. Für eine standardisierte Massenproduktion hat sich ein solches System als effektiv erwiesen. Allerdings bedurfte es meist eines expliziten Gebrauchs der Macht – oft zu Lasten der Mitarbeiter.
Alternative Führungssysteme
In einer multikomplexen Umwelt stößt das Führen wie in monokausalen Systemen aber immer mehr an seine Grenzen. Sollte also lieber ein Steuerungsgremium von unterschiedlichen Experten mit breiterem Blick an die Stelle einsamer Leitungsfunktionen treten? Solche Kollegialgremien, die wie Mitbestimmungsgremien „paritätisch“ besetzt sein können, können trotz auftretender Machtspiele durchaus funktionieren, wie Beispiele einiger Startup-Unternehmen zeigen.
Eine Alternative wäre eine Führung durch eine Facharistokratie. Notwendig sind bei einem solchen Führungssystem Regeln der kollegialen Zusammenarbeit und Rückkopplungsschleifen, wie zum Beispiel die Möglichkeit zur Abberufung durch einen Souverän. In demokratischen Staaten ist das das Volk. Es legitimiert – zumindest der Intention nach – Führung. In Unternehmen wiederum sind es die Eigentümer, die die Führung einsetzen und abberufen können.
In der aktuellen Diskussion um agile Unternehmen als Reaktion auf eine agilere, also schnelllebigere und komplexere Umwelt, wird die Führungsfrage neu gestellt. Dabei werden nicht nur die Anforderungen an Führung neu justiert, sondern es stellt sich auch grundsätzlich die Frage, ob die bisherigen Systeme von Führung den geänderten Anforderungen noch gerecht werden.
Werden Führungskräfte künftig überflüssig?
Auch agile Organisationen brauchen Managementfunktionen zur Zielbildung, Koordination und Konfliktlösung. Diese Funktionen werden in der Organisation jedoch so verteilt und über Rückkopplungsfunktionen koordiniert, dass das System zugleich stabil ist und auf Umwelteinflüsse sensibel reagieren kann. Führen bedeutet in diesem Kontext, sich wechselseitig zu informieren, zu unterstützen, zu steuern und zu führen. Braucht es für solche Systeme also überhaupt noch Führungskräfte in der bisherigen Form?
Einige Unternehmen haben bereits Management-Systeme ohne Führungskräfte etabliert, wie etwa das brasilianische Unternehmen Semco. Der Geschäftsführer und Mehrheitseigentümer Ricardo Semler stellte dafür die Unternehmensstruktur um, in dem er Unternehmensprozesse radikal demokratisierte. In der Praxis bedeutete das: Empowerment der Mitarbeiter, Job-Enlargement und Job-Enrichment, flache Hierarchien sowie Entbürokratisierung.
Zu Ende gedacht, könnte ein zukünftiges Führungsmodell also so aussehen, dass sich viele „Selbstständige“ miteinander assoziieren und wechselseitig steuern.
Die zukünftige Legitimation von Führung
Auch aus demokratiekritischer Sicht stellt sich die Frage, wie sich Systeme legitimieren, in denen Macht und Einfluss kanalisiert werden. Aus dem Grundgesetz etwa lässt sich nur schwer eine dezidierte Legitimation von Führung in wirtschaftlichen Organisationen ableiten. Letztlich leitet sie sich aus der Funktion und Stellung des Privateigentums ab. Dass das Thema Legitimation virulent ist, zeigt unter anderem ein Interview mit Thomas Sattelberger aus dem Jahr 2014. Darin plädiert der Ex-Vorstand der Lufthansa und Deutschen Telekom nicht nur für eine stärkere Orientierung der Unternehmen am Gemeinwohl, sondern auch dafür, „dass man die Führungskräfte wählen und auch wieder abwählen kann. Nicht den Vorstand einer AG, aber den breiten Führungskörper.
Doch sucht nicht jeder Mensch nach Führung, nach Halt und Sicherheit? Die Geschichte zeigt, dass es bestimmte Situationen gibt, in denen Menschen sich gerne vermeintlich starken Führern unterwerfen. Es lässt sich ein Hang zur Konformität, zur Ein- beziehungsweise Unterordnung beobachten. Dies trifft nicht nur auf den staatlichen, sondern auch auf den wirtschaftlichen Bereich zu. Führung entlastet die Mitarbeiter, indem sie ihnen Verantwortung abnimmt.
Selbstorganisation ist die Zukunft
Wir brauchen ein neues Führungsmodell, bei dem die Führungskräfte das Unternehmen wie ein Mentor steuern, den Mitarbeitern Unterstützung anbieten und sie, ähnlich einem Coach, beraten. Wir müssen uns verabschieden von tradierten Führungsmechanismen und Führungsideologien, die wir zum Teil tief verinnerlicht haben. Es ist wahrscheinlich, dass sich in den kommenden Jahren Ideen und Ansätze zur Selbststeuerung immer stärker durchsetzen werden. Immer seltener nämlich können es sich Unternehmen erlauben, die Selbstverantwortung ihrer Mitarbeiter durch Führung einzuengen.
Die Umsetzung solcher Ansätze der Selbststeuerung und Selbstorganisation wird aber durch negative Erfahrungen mit Gruppen erschwert, die versuchten, sich selbst zu steuern und daran scheiterten. Dieses Scheitern hatte die Bildung einer informellen Hierarchie sowie von Führung zur Folge. Das Problem dabei ist auch, dass wir weder in der Schule noch später in der Ausbildung das Handwerkszeug für Selbststeuerung gelernt haben. Wir haben auch nicht gelernt, als autonome Subjekte herrschaftsfrei miteinander umzugehen. Wir glauben an die „normative Kraft des Faktischen“ und sind es (noch) nicht gewöhnt, in selbstorganisierten Gruppen zu arbeiten. Doch das können wir zukünftig ändern.