RedenBeim Publikum zieht Herz statt Hirn
Schon manche Wahl wäre anders ausgegangen, wenn gute Politik ausreichen würde, um Mehrheiten zu erlangen. Doch erst Emotionen bringen die inhaltliche Substanz politischer Debatten zur Entfaltung. Deshalb inszenieren sich Spitzenkandidaten im Wahlkampf wie Superstars – ganz besonders in TV-Duellen. Wenn zwei potenzielle Kanzler im Fernsehstudio aufeinandertreffen, dann steht Persönlichkeit gegen Persönlichkeit. Diese öffentliche Bühne als Sieger zu verlassen verlangt den Kandidaten weit mehr ab als die besseren Argumente auf der Sachebene. Wer die Herzen der Zuschauer erreicht, kann hier entscheidende Prozentpunkte gutmachen. Doch dieser Effekt gilt nicht nur im Wahlkampf, sondern für alle öffentlichen Auftritte, auch in Unternehmen.
Emotionen geben oft den Ausschlag
Was die Publikumslieblinge unter den Politikern von den charmefreien Strebertypen unterscheidet, ist diese Erkenntnis: Bei einem TV-Duell ist man in erster Linie ein Redner mit einem Publikum, und erst dann ein Politiker mit Sachthemen. Auch ein gut ausgearbeiteter, faktenreich argumentierender Auftritt vor den Wählern macht keinen Gewinner, wenn der Gegner das beherrscht, was einen guten Redner ausmacht: mit seinen Worten an die Gefühle des Publikums zu appellieren. Gerade wenn die Unterschiede subtil sind, geben die Emotionen oft den Ausschlag.
Edmund Stoiber hatte beim TV-Duell im September 2002 in Gerhard Schröder genau so einen mediengewandten Gegner gefunden. Der damalige bayerische Ministerpräsident hatte auf dem Papier die bessere Ausgangssituation: Die CDU ging mit einem Vorsprung in den Umfragen in die Fernsehdebatte, obwohl Schröder im direkten Vergleich mit Stoiber die besseren Werte hatte. Zusätzlich spielte dem Bayern in die Karten, dass Schröder das erste Fernsehduell zwischen den beiden gründlich verdorben hatte. Doch der Vorteil sollte Stoiber nichts nützen. Schröder gewann nach einhelliger Meinung der Experten, ohne echte politische Trümpfe in der Hand, das Duell – und zwei Wochen später die Wahl.
Warum? Der „Medienkanzler“ hatte sein Publikum vor Augen. Stoiber war an diesem Sonntagabend ganz im Fernsehstudio, und berichtete den Moderatorinnen konzentriert von politischen Fakten. Schröder hingegen war im Kopf in den Wohnzimmern der Wähler, und appellierte subtil an ihre Gefühle. Wie können wir als Redner diese emotionale Verbindung herstellen? Wie wird Fakt zu „Feeling“?
Wie die Botschaft emotional wird
Die Botschaft einer Rede lässt sich als Pyramide mit drei Ebenen darstellen.
- Oben: Wertebene
- Mitte: Faktenebene
- Unten: Beispielebene
Die Basis der Pyramide bildet die Darstellung von realen, möglicherweise individuellen Bezügen, die als Beispielhorizont für eine Botschaft dienen. Diese Beispielebene decken Profis bei öffentlichen Auftritten gezielt ab, um die Botschaft für die Wähler nachvollziehbar zu machen. Edmund Stoiber verpasste diese Chance im TV-Duell komplett – sogar bei seinem zentralen Thema Arbeitslosigkeit, das sich dafür glänzend eignet.
Gerhard Schröder dagegen nutzte diese Möglichkeit, als er über seine Bildungspolitik sprach. Für den Wähler abstrakte Instrumente wie den Bildungsetat des Bundes und die Bezuschussung der Länder für eine verbesserte Ganztagsbetreuung personifizierte er geschickt, indem er seinen eigenen Bildungsweg ins Spiel brachte. Zitat:
„Was ich nicht möchte ist, dass wir in diesem Land eine Situation bekommen, wo es Kindern aus sozial schwächeren Familien – ich habe meine Abschlüsse über den zweiten Bildungsweg machen müssen – nicht mehr möglich ist, zu Deutschlands hohen und höchsten Schulen zu gehen, weil sie sie nicht bezahlen können.“
Eigene Erfahrungen einbringen
Schröder verbesserte dadurch nicht nur die Verständlichkeit der Zusammenhänge für die Zuschauer, sondern gewährte ihnen durch den Einblick in seine Biografie emotionalen Zugang zu seiner Person. Aus „Wir brauchen finanzielle Mittel der Bildungsförderung“ wurde in den Ohren der Zuschauer so ein „Ich verstehe aufgrund eigener Erfahrung, dass Euch bessere Bildungschancen für Eure Kinder am Herzen liegen.“ Die Beispielebene ist für jeden Redner unverzichtbar, um die Identifikation mit dem Publikum herzustellen. Bei Stoiber klang die Einlassung zum Thema Bildung dagegen folgendermaßen. Zitat:
„Wenn Deutschland, das auf den Rohstoff Geist angewiesen ist, […] nach der OECD-Studie an 21. Stelle liegt, dann ist das eine wirklich katastrophale Bilanz.“
An diesem Zitat wird klar erkennbar, wo Stoibers Rhetorik beim TV-Duell verortet war – nämlich in der Mitte der Pyramide. Dort liegt die Faktenebene: Zahlen, Daten, Paragrafen. Alles, was sachlich relevant und fachlich notwendig ist – für das Publikum aber weitgehend uninteressant und oft genug auch völlig unverständlich. Die Faktenebene sollten Redner immer nur so weit anzapfen, wie es für eine logische Argumentation unbedingt notwendig ist. Stoiber aber zitierte munter Statistiken, dass es den Zuhörern schwindlig werden konnte.
Zu Wertefragen Stellung nehmen
An der Spitze der Pyramide schließlich thronen die Werte, auf die die Botschaft Bezug nimmt. Die majestätische Formulierung ist beabsichtigt: Dies ist die emotionale Ebene der Pyramide, die Königsdisziplin der politischen und jeder anderen rhetorischen Botschaft. Edmund Stoibers Argumentation blieb beinahe gänzlich außerhalb dieser wichtigsten Ebene der rhetorischen Auseinandersetzung. Ein deutliches Beispiel dafür lieferte er, als er von Moderatorin Maybrit Illner auf die Koalitionsfrage angesprochen wurde. Zitat:
„Frau Illner, zunächst ist mein gesamtes Streben danach gerichtet, über 40 Prozent zu kommen. Das ist mein zentrales Anliegen.“
Welche Botschaft sendet das an die Wähler? Erwarten sie nicht, dass sie selbst das zentrale Anliegen eines Kanzlerkandidaten sind? Schröder hingegen stieß bei seinen Ausführungen immer wieder in die Spitze der Pyramide vor, indem er geschickt zu Wertefragen Stellung nahm, ohne sie beim Namen zu nennen. Das wurde besonders deutlich, als die Sprache auf das zu dieser Zeit heiß diskutierte Thema eines Bundeswehr-Einsatzes im Irak kam, den Schröder zur Entrüstung von US-Präsident Bush vehement ablehnte.
Stoiber warf Schröder vor, durch seine Verweigerung die deutsch-amerikanische Freundschaft zu gefährden. Der amtierende Kanzler aber lenkte mit seiner Antwort die Auseinandersetzung gezielt in eine Richtung, die weit näher am Befinden der Bevölkerung war, nämlich die Herabsetzung der Hemmschwelle für Kriege überhaupt. Zitat:
„Es geht schlicht darum, dass in einer bestimmten Frage, die durchaus existenzieller Natur ist, nämlich die Frage von Krieg und Frieden, es Meinungsverschiedenheiten gibt. […] In solchen existenziellen Fragen gibt es nur eine klare Antwort und gibt es kein Rumdrücken.“
Und, an Stoiber gerichtet: „Reden wir doch [darüber], was in einem Fall von Krieg und Frieden Sie oder ich tun würden.“
Distanz ist ein Gefühlskiller
Dieser Herausforderung begegnete Stoiber erneut mit völlig emotionslosem Vokabular. Er hielt einen langatmigen Vortrag über das potenzielle irakische Waffenarsenal und die Methoden der Kriegsführung zwischen Saddam Hussein und den Nachbarländern des Irak. Er verteidigte den geplanten Militärschlag mit der Begründung, dass die Staatengemeinschaft vorhabe, mehr über den Irak zu erfahren. Er sprach über den Krieg wie über eine Marsmission, weit außerhalb des bürgerlichen Horizonts. Sein Kontrahent wiederum holte mit seiner klaren Stellungnahme über Krieg und Frieden die Bedrohung des Krieges in die Wohnzimmer der Zuschauer. Schröder gelang bei diesem Schlagabtausch der entscheidende Punktgewinn. Die emotionale Annäherung an das Publikum, dessen Wünsche und Sorgen, öffnet die Tür auch für schwierige Botschaften.
Weil diese emotionale Annäherung ein Erfolgsrezept für jeden Redner ist, der seine Zuhörer erreichen will, ergibt sich aus ihr auch ein absolutes No-Go der gefühlsbetonten Rhetorik: auf Abstand zum Publikum zu gehen. Emotional zugänglich sind Menschen nur, wenn sie für die Annäherungsversuche des Redners offen sind, weil sie ihn zu kennen glauben. Wer dagegen eine Distanz zu seinem Publikum erkennen lässt oder gar von oben herab argumentiert, wirkt emotional unglaubwürdig.
Beide Kanzlerkandidaten erzählten in ihren Äußerungen beim TV-Duell 2002 die Geschichte der rot-grünen Regierung seit 1998, also die Vorgeschichte der bevorstehenden Wahl. Als Geschichtenerzähler nahmen sie dabei jedoch ganz unterschiedliche Haltungen ein. Stoiber rezitierte seine Version aus der Perspektive des Oppositionspolitikers, angelegt auf Konfrontation. Schröder dagegen erzählte aus der Perspektive der Wähler. Viel einfacher wäre es für ihn gewesen, die Sichtweise des Kanzlers einzunehmen und sich einfach für seine Erfahrung im Amt zu rühmen, doch in diese Falle tappte er nicht. Mit einer solchen Ansprechhaltung hätte er sich meilenweit vom Publikum entfernt; er hätte sich als Vertreter der Macht dargestellt anstatt als Vertreter des Volkes.
Zu viel Abstraktion erzeugt Langeweile
Edmund Stoiber machte in seinem finalen Plädoyer an die Wähler genau diesen Fehler. Zitat:
„Wir müssen die Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche Leistungsschwäche Deutschlands wesentlich verbessern. Deutschland […] hat es nicht verdient, an letzter Stelle des wirtschaftlichen Wachstums und am Wachstum der Arbeitslosigkeit zu stehen. […] Ich möchte jedenfalls erreichen, dass unser Land ein Land ist, das […] sich bewusst ist, dass die deutsch-amerikanische Freundschaft für Deutschland unverzichtbar ist und dass der Ton die Musik macht und […] ich werde jedenfalls mit Bush und den Verantwortlichen ein anderes Verhältnis aufbauen als das Kanzler Schröder gemacht hat.“
Ganz abgesehen von der holprigen Sprache – nicht mit einem Wort erwähnte der Kandidat hier die Wähler. Er spricht von Deutschland als abstraktem Begriff, von internationalen Vergleichslisten, von der politischen Beziehung zu einem anderen Kontinent und vom Tonfall diplomatischer Auseinandersetzungen. Weiter aus dem Dunstkreis der Zuschauer hätte er sich kaum noch entfernen können. Schröder dagegen begann seine finale Ansprache so. Zitat:
„Ich möchte gerne die Kräfte, die ich gespürt habe während der Flutkatastrophe, pflegen und nutzen. Das ist die Kraft zu Gemeinsinn […] als Voraussetzung dafür, dass die großen Aufgaben, die vor uns liegen, gepackt werden können.“
Nicht nur sprach er mit der Elbflut, die sich im Vormonat ereignet hatte, ein äußerst emotionales Thema an; er suggerierte den Zuschauern damit auch seinen Stolz auf die Bevölkerung, und dass er sich bei seiner Arbeit an ihrer Beherztheit und Tatkraft orientieren wolle.
So gelingt ein bewegender Auftritt
- In erster Linie immer als Mensch mit Gefühlen, nicht als Fachexperte mit Faktenwissen sprechen.
- Zusammenhänge auf emotional ansprechende Beispiele aus dem Erfahrungshorizont des Publikums herunterbrechen.
- Abstraktes Faktenwissen nur so weit nutzen, wie es unbedingt nötig ist, um Argumente plausibel zu machen.
- Eine Brücke zwischen der Botschaft und den Grundwerten des Publikums bauen.
- In der Ansprechhaltung nie auf Distanz zum Publikum gehen, sondern sprachlich und argumentativ auf Augenhöhe bleiben.