StrategemeListige oder Clevere Chinesen?
In Deutschland lernen wir nicht, systematisch auf mögliche Listanwendung in unserem Umfeld zu achten oder Listen anzuwenden. Wenn wir merken – in der Regel im Nachhinein –, dass unser Gegenüber sein Ziel unter Anwendung einer List erreicht hat, haben wir das Gefühl hinters Licht geführt, über den Tisch gezogen oder an der Nase herumgeführt worden zu sein. Das "macht man nicht" - ist die Grundhaltung, die eine Nutzung von Listen als negativ bewertet.
Listen sind aus unserer Sicht unanständige, hinterlistige Vorgehensweisen, und Menschen, die so vorgehen, werden als Geschäftspartner besonders vorsichtig behandelt oder gemieden. Aber machen wir uns nichts vor – natürlich werden dennoch häufig auch bei uns Listen angewendet. Die Anwender sind keineswegs gesellschaftlich geächtet. Aber es bleibt ein unangenehmer Nachgeschmack.
Wie ist das in China?
In China hat die List oder die Anwendung von Strategemen, um einen neutraleren Begriff zu nutzen, kein derartig negatives Image. In der chinesischen Kultur existiert eine Anzahl von 36 Strategemen, die allgemein bekannt sind. Also eine Anzahl systematischer Tricks, Listen, Kniffe – eben Strategeme – deren Anwendung intuitiv oder auch geplant erfolgt.
Von frühestem Kindesalter an hören Chinesen Geschichten und Volkserzählungen, lesen Bildergeschichten, sehen Comics oder Filme im Fernsehen, in denen die Strategeme angewendet werden. Eine Strategemanwendung wird häufig in den chinesischen Geschichten mit dem Titel und der Nummerierung des Strategems benannt. Durch die ständige Wiederholung lernen schon Kinder die Strategeme zuzuordnen.
Die Listanwendung wird in China also nicht einfach als List bezeichnet, sondern konkret entsprechend der bekannten Strategeme benannt. Ein chinesischer Unternehmensberater sagte mir:
"Wie die Engländer mit einem Regenschirm auf die Welt kommen, wachsen wir Chinesen mit den Strategemen auf."
Eine weitere Betonung der zentralen Bedeutung dieses Themas steht damit außer Frage.
Die Strategeme sind keineswegs in erster Linie Kriegslisten, wie vermutet werden könnte. Es ist eine Illusion anzunehmen, dieses Thema sei nur in militärischen Zusammenhängen wichtig. In allen Bereichen des Lebens kommen die Strategeme zum Einsatz:
- beim Militär,
- in der Wirtschaft,
- in der Politik,
- beim Sport und
- im Privatleben.
Beispiele zum Verständnis
- Ein Joint Venture errichtete in China eine Produktionsstätte auf Basis einer Wasseranalyse. Der ausländische Partner forderte eine Wasseranalyse und vertraute darauf, dass die Wasserprobe selbstverständlich aus dem Wasserhahn kam.
Später stellte sich jedoch heraus, dass das analysierte Wasser Mineralwasser aus dem Supermarkt war. Hier ist das Strategem Nr. 25 angewandt worden: "Ohne Veränderung der Fassade eines Hauses in dessen Innerem die Tragbalken stehlen und die Stützpfosten austauschen." Eine etwas blumige Formulierung für nichts anderes als einen Etikettenschwindel.
Es wurde heimlich ein anderer Inhalt als der erwartete geliefert, mit der Konsequenz, dass der ausländische Partner sich auf Basis der – für ihn nutzlosen – Mineralwasser-Analyse für den Produktionsstandort entschied.
- Qualitätskontrolle in einem deutsch-chinesischen Joint Venture, irgendwo in Süd-China. Im Zweistunden-Takt nimmt eine chinesische Mitarbeiterin stichprobenartige Schichtdickenmessungen mit einem speziellen Messgerät vor. Der deutsche, technische Leiter war mit der akkurat geführten Dokumentation sehr zufrieden.
Einen Monat später kontrollierte er erneut die Dokumentation, die er wieder in der erfreulichen Ordnung vorfand. Als er jedoch die Mitarbeiterin bei der Messarbeit begleiten wollte, stellte sich heraus, dass das Messgerät defekt war. Schon seit fast zwei Wochen. Auf die Nachfrage, woher die eingetragenen, kaum eine Stunde alten Messergebnisse kamen, wurde ihm mitgeteilt, dass sie diese aus den vorherigen Aufzeichnungen abgeschrieben hatte.
Dem deutschen Vorgesetzten wurde unter Nutzung des Strategems Nr. 1, dem Tarnkappen-Strategem: "den Himmel täuschend das Meer überqueren", der Eindruck vermittelt, dass alles normal läuft. Unter dem Anschein von Normalität – es wurden optisch akkurate Dokumentationen abgeliefert –, wurde die tatsächlich vorhandene Realität – defektes Messgerät – verschleiert.
Nicht alle Strategeme bedeuten auch gleichzeitig Täuschung! Viele Strategeme können sowohl konstruktiv, als auch destruktiv genutzt werden. Aufmerksamkeit und Hintergrundwissen sind zur eigenen Sicherheit notwendig!
Unternehmen außerhalb Chinas machen sich die Strategeme ebenfalls zu Nutze
Es ist keineswegs so, dass nur in China Strategeme Anwendung finden. Eine nicht-chinesische Strategemanwendung liefert Adobe: Die Software Photoshop ist für Fotobearbeitung äußerst beliebt und wird als Vollversion für circa € 1.000 verkauft. Neuerdings hat Adobe sein Photoshop auf Webgröße geschrumpft.
"Photoshop Express" ist eine umfangreiche, kostenlose Bildbearbeitung, die im Internetbrowser läuft. Ein Schnäppchen? Klar, ist ja kostenlos. Wer liest schon die AGB genau? Aber hier steht (Stand August 2008), dass Adobe die Nutzungsrechte an allen für die Öffentlichkeit freigegebenen, also für die Community sichtbaren Fotos für sich reklamiert.
Der Nutzer, der diesen AGB zustimmt, um Photoshop Express zu nutzen, erlaubt dem Hersteller Adobe, die nutzereigenen Bilder zu verändern, in jedem beliebigen Medium zu reproduzieren, sie weiter zu verkaufen und die Nutzungsrechte an Dritte weiter zu lizenzieren, ohne an den Urheber Gebühren zahlen zu müssen. Diese Rechte erhält Adobe weltweit, unbefristet und unabänderlich. Selbst wenn der Nutzer sein Profil löscht und Photoshop Express nicht mehr nutzen will, behält Adobe die Nutzungsrechte an freigegebenen Bildern.
Dieses Vorgehen entspricht dem 17. Strategem "Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen". Der Backstein ist in diesem Fall die kostenlose Software eines Markenherstellers, der sich unter Nutzung der AGB verspricht, einen Jadestein zu erlangen, also Fotos, mit deren Vermarktung das Unternehmen Adobe einen größeren wirtschaftlichen Ertrag erzielen kann, als er in die Entwicklung von Photoshop Express investiert hat. Ist das listig oder clever? Oder beides?
Fazit
Wenn in China jemand sein Ziel unter cleverer Nutzung der Strategeme erreicht, erntet er damit nicht Ablehnung oder Abscheu, sondern Anerkennung (wenn auch zähneknirschend). Man erkennt ihn als einen pfiffigen Gegner an, der einfallsreich handelt. In China werden die Strategeme systematisch eingesetzt und erkannt. Das Wissen über Strategeme ist für jeden, der mit China zu tun hat, ein grundlegender Baustein für erfolgreiche Zusammenarbeit.
Sich gänzlich ohne sinnvolle Vorbereitung auf die Reise zu begeben, ist wie eine Nachtwanderung ohne Taschenlampe und ohne zu wissen, wo man wegen steiler Abhänge vorsichtig sein muss. Wenn man Glück hat, kommt man unbeschadet an. Wenn man Pech hat, stürzt man ab. Dafür kann man dann aber nicht die bösen Abhänge verantwortlich machen, sondern die eigene, mangelhafte Vorbereitung.
Sobald Sie anfangen, die Systematik der Strategeme zu erkennen, werden Sie feststellen, dass diese an allen Ecken und Enden zum Einsatz kommen. Bislang waren das die Fälle, die häufig schulterzuckend als „das ist nun mal so in China“ abgetan wurden.
Wege zur Entdeckung der Welt der Strategeme
Bis vor wenigen Jahren galten die 36 Strategeme als Geheimwissen. Dem bekannten Schweizer Sinologen Prof. Dr. Harro von Senger gebührt der Verdienst, dieses Wissen der westlichen Leserschaft in diversen Veröffentlichungen zugänglich gemacht zu haben. Weitere deutschsprachige Veröffentlichungen liegen von Gao Yuan und ganz aktuell von Dr. Lanfen Guo vor.
In Seminaren lernen Sie Geschichte, Analyse, Anwendung und Abwehr der Strategeme kennen. Gute Trainings zeichnen sich durch die Vermittlung von Grundlagen chinesischen Denkens und chinesischer Wertvorstellungen aus. Dadurch können Hintergründe der Strategemanwendung sinnvoll eingeordnet werden. Vieles, was westliche Unternehmen in China negativ überrascht, ist bei Kenntnis der Strategeme durchaus vorauszusehen. Schäden lassen sich somit rechtzeitig abwenden. Die Kenntnis von Strategemen wird westlichen Unternehmen nicht schaden und oft zu zusätzlichem wirtschaftlichen Erfolg führen.
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