Wachstum und Chaos bei Unternehmensentwicklung
Kennen Sie den so genannten Schmetterlingseffekt in der Chaosforschung? Diese Metapher beschreibt anschaulich die Unvorhersagbarkeit von Ereignissen in komplexen, nichtlinearen dynamischen Systemen. Ein Beispiel: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien kann einen Tornado in Texas auslösen. Geringfügig veränderte Anfangsbedingungen können also im langfristigen Verlauf zu einer völlig anderen Entwicklung führen. Auch erfolgreiche, schnell wachsende Unternehmen zeigen Tendenzen, sich zu komplexen, nichtlinearen dynamischen Systemen zu entwickeln. Dadurch besteht für sie die Gefahr der Chaosentwicklung. Kleinste Ursachen haben dann mitunter große, in der Regel negative Wirkungen.
Anzeichen und Ursachen chaotischer Entwicklungen
Eines der typischen Anzeichen beginnender Unübersichtlichkeit sind ausufernde Projekte, die zum Selbstläufer geworden sind, in der Routine erstarren und keinerlei verwertbare Ergebnisse bringen: Irgendwann einmal wurde eine Idee entwickelt, zu Papier gebracht und der Geschäftsführung präsentiert. Nach deren Zustimmung erhielten Führungskräfte den Auftrag, daraus ein marktfähiges Produkt oder eine marktfähige Dienstleistung zu entwickeln. Je komplexer das nunmehr angestoßene Projekt ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Teilaufgaben nach unten delegiert werden. Die damit betrauten Mitarbeiter beziehen wahrscheinlich weitere Kompetenzträger in den Prozess ein. Aus der ursprünglich brillanten Idee ist nun ein Geflecht unterschiedlichster Fach- und Interessengruppen geworden, die untereinander kaum oder nur unzulänglich vernetzt sind.
Hinzu kommt: Mitarbeiter gewöhnen sich schnell an solche Zusammenkünfte außerhalb ihrer Routineaufgaben. Da wird dann über alles Mögliche gesprochen, bloß nicht über Sinn und Zweck des Projekts. Ähnlich verhält es sich mit dem „Vertagungssyndrom“ nach dem Motto „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe gleich auf morgen!“ Die häufige Delegation von Aufgaben auf gleicher oder an niedrigere Ebenen und ungewöhnlich häufige Meetings sind mithin deutliche Warnzeichen für drohendes Chaos. Verstärkt wird dieser Effekt durch massenweise verschickte E-Mails mit zahlreichen Fragezeichen im Text und dementsprechend langen Antwortketten.
Erfahrungsgemäß finden sich chaotische Zustände nicht wie eigentlich zu erwarten in Führungsstrukturen mit mangelnder fachlicher oder sozialer Kompetenz. Ganz im Gegenteil: Ausgewiesene und mitteilungsfreudige Fachleute neigen weitaus häufiger dazu, Chaos zu verursachen als Mitarbeiter unterer Ebenen. Hauptgrund: Die Empfänger der Anweisungen sind schlicht überfordert. Dies liegt einerseits an deren falsch oder unvollständig definierten Aufgabenbereichen, andererseits an fehlender Abstimmung unter den Führungskräften selbst.
So kommt es vor, dass Mitarbeiter verschiedener Vorgesetzter entgegengesetzte Anweisungen erhalten. Oder sie werden derart mit Aufgaben überschüttet, dass sie auf stur schalten. Beide Fälle können Anlass für chaotische Zustände sein. Folgen sind dann beispielsweise nicht eingehaltene Liefertermine oder Produktionsfehler mit der Gefahr des Kundenverlustes und einer wirtschaftlichen Schieflage. Die Ursache allerdings liegt bei den Führungskräften.
Überforderte und damit potenziell Chaos herbeiführende Mitarbeiter sind darüber hinaus häufig auch in Unternehmen zu finden, deren Ziele und Visionen schwer nachvollziehbar sind oder unerreichbar erscheinen und damit von den Mitarbeitern nicht mitgetragen werden. Beispiele dafür sind: „Umweltschutz wird überbewertet“ oder „In einem Jahr sind wir Marktführer“. Kommen dann noch Missmanagement und eine nicht marktgerechte Angebots- und Preispolitik hinzu, steht das Unternehmen über kurz oder lang vor dem Aus.
So lassen sich chaotische Zustände verhindern
Schnelles Wachstum und unerwartet hohe Anfangserfolge im Markt sind äußerst kritische Faktoren bei der Beurteilung der Chaosgefahr. Wobei Technologieunternehmen die Speerspitze bilden, wie man bei der Dotcom-Blase Anfang dieses Jahrtausends sehen konnte. Die damalige Euphorie rund ums Internet hat sich zwar inzwischen gelegt; dennoch drängen noch immer Unternehmen mit zumindest zweifelhaftem Geschäftsmodell auf den Markt. Deren Chaos äußert sich typischerweise in allzu gutgläubiger, extensiver Personalpolitik und in einem gewissen Laissez-faire-Stil, zu dem auch großzügiges Ausgeben von Investorengeldern gehört.
Gefährdet sind aber auch etablierte Unternehmen mit stetigem, wenn auch bescheidenem Wachstum. Auslöser chaotischer Zustände finden sich hier in der Regel in der Führungsetage, und zwar dann, wenn der Firmenlenker Umsatzziele erheblich nach oben korrigiert. Statt sich auf den Vertrieb der erfolgreichsten Produkte oder Dienstleistungen zu konzentrieren, wird das Angebot zwar in kleinen Schritten, aber unentwegt erweitert, um möglichst keine zusätzlichen Umsatzchancen zu verpassen. Über kurz oder lang lassen sich die einzelnen Deckungsbeiträge dann kaum noch nachvollziehen. Produkte mit hohen Margen subventionieren diejenigen mit geringer Gewinnspanne überproportional.
Wichtigstes Utensil bei der Chaos-Prophylaxe ist ein detaillierter Plan, quasi eine Landkarte für die Reise ins Wachstum. Dieser Masterplan muss alle relevanten Firmenparameter abbilden, von den Ist- und Soll-Werten bei Umsatz, Kosten, Liquidität und Personal bis zur Unternehmensarchitektur anhand von Organigrammen mit aussagefähigen Aufgabenbeschreibungen. Klar definierte Ziele und Visionen gehören ebenso dazu wie die Abbildung hierarchischer Strukturen. Wichtig ist dabei, die vorhandene und geplante personelle Kapazität der Führungsebene zu berücksichtigen und auch Spielräume für Anpassungen zu erlauben.
Ein solcher Masterplan ist selbstverständlich kein starres Gebilde, sondern unterliegt ständiger Analyse und Optimierung hinsichtlich aktueller Abläufe und Prozesse. Hilfreich ist dabei die Einführung praxiserprobter Managementtools, beispielsweise TQM oder Six Sigma. Nicht zu vergessen: Wachstum bedeutet Kapitalbedarf. Entsprechende Aktivitäten wie Verhandlungen mit Banken oder Investoren gehören ebenfalls zu den Eckpfeilern eines Masterplans.
Ob und wann ein Unternehmen ausgesprochen chaotische Zustände entwickelt, lässt sich letztlich nur schwer voraussagen, selbst wenn alle Anzeichen dafür sprechen. Ein wenig Chaos dagegen ist durchaus erlaubt, denn Kreativität entwickelt sich am besten innerhalb nicht zu eng gesetzter Grenzen. Ein Masterplan und dessen Umsetzung allerdings verhindern, dass sich aus anfänglicher Unordnung ein Chaos entwickelt, aus dem Unternehmen nur schwer wieder herausfinden.