Zielgruppe 50 plusDas Sprachverständnis von Senioren
Wissenschaftler der Technischen Universität Braunschweig und die Firma lingua@MEDIA haben untersucht, inwieweit Versicherungstexte für ältere Menschen leserlich und verständlich sind. Dabei ging es um einen Text zur Erläuterung des Begriffs „Schwerstpflegebedürftigkeit“ und einen Text aus Allgemeinen Geschäfts- bzw. Versicherungsbedingungen.
Die Ergebnisse der jeweils einstündigen Untersuchungen mit den insgesamt fast 50 Probanden waren überraschend:
- Bestimmte Sätze wurden von 91,4 Prozent der Versuchsteilnehmer auch nach mehrmaligem Lesen nicht verstanden.
- Um fünf Sätze zu lesen, brauchten unsere Versuchspersonen (überwiegend Akademiker) bis zu 31 Minuten, ohne allerdings den Text dann ausreichend verstanden zu haben.
- Es gab Fachwörter, die entweder gar nicht oder nur in einer anderen Bedeutung bekannt waren. Manchmal waren die Bezeichnungen geläufig, nicht aber die Begriffe. Die Versuchsteilnehmer sprachen dann von „Worthülsen“ und „blutleeren“ Wörtern.
- Bestimmte Hauptwortformulierungen werden generell schwerer verstanden als Tätigkeitswörter. Zum Beispiel der Ausdruck nach Ihrer Benachrichtigung in folgendem Text:
"Keine Ansprüche auf Tarifleistungen bestehen für Behandlungen durch Ärzte und Heilpraktiker, deren Rechnungen wir aus wichtigem Grunde von der Erstattung ausgeschlossen haben, wenn der Versicherungsfall nach Ihrer Benachrichtigung über den Leistungsausschluss eintritt."
Der Ausdruck nach Ihrer Benachrichtigung wurde von fast allen Versuchspersonen falsch verstanden. Sie interpretierten ihn als nachdem ich die Versicherung benachrichtigt habe statt nachdem die Versicherung mich benachrichtigt hat. Dadurch blieb der gesamte Absatz unklar bzw. widersprüchlich.
Besondere Schwierigkeiten bereiteten Informationshäufungen wie wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens fünf Stunden.
Problematisch: Lange Satzkonstruktionen
Die untersuchten Texte enthalten Sätze mit fast 50 Wörtern. Generell gelten Sätze mit mehr als 20 Wörtern als Überlast für das Kurzzeitgedächtnis. Das ist bei der untersuchten Zielgruppe besonders brisant, weil ältere Menschen im Allgemeinen über geringere Gedächtnisspannen verfügen als jüngere Erwachsene.
Zur Satzlänge hinzu kam in unserer Untersuchung eine hohe Satzkomplexität, beispielsweise eingebettete Nebensätze, Klammerausdrücke, Aufzählungen usw.
Ein Beispiel:
Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) der versicherten Person liegt vor, wenn diese wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt.
Ältere Personen scheinen besonders sensibel zu sein für Aspekte von Ordnung, Klarheit, Übersichtlichkeit. Es darf nicht „alles durcheinandergehen“. Das ist nicht nur für den (inneren) Sinnzusammenhang wichtig, sondern auch für die „äußere Form“, das Layout. Charakteristisch die Äußerung einer Probandin:
„Für uns Alte ist der verbesserte Text viel übersichtlicher. Wenn man es so übersichtlich sieht und liest, bleibt’s auch ’n bisschen besser da drin hängen.“
Die Schriftgröße eines Textes (6 Punkt) wurde von den meisten Versuchsteilnehmern als viel zu klein bemängelt. Manche konnten sie nur mit einer Lupe entziffern.
Probleme der genannten Art traten bei allen Probanden auf (sogar bei juristisch gebildeten), gehäuft aber bei Lesern mit niedrigeren Bildungsabschlüssen. Mehrere Versuchsteilnehmer wiesen auf die Schwierigkeiten hin, die besonders ausländische Mitbürger mit solchen Texten haben müssten.
Bemerkenswert ist, dass es sich hier in fast allen Bereichen um statistisch signifikante Unterschiede im Vergleich mit den verbesserten Texten handelt. Ein Beispiel zur Syntax:
Das Vorwissen von Versuchspersonen
Wenn wir uns in einem Fachgebiet gut auskennen, dann hat das im Allgemeinen positive Auswirkungen auf das Verstehen eines entsprechenden Textes. Das Vorwissen kann aber auch das Textverstehen behindern. Und zwar dadurch, dass die Person meint, der in dem Text geschilderte Fall müsse den eigenen Erfahrungen entsprechen, was aber nicht der Fall ist. So macht Vorwissen voreingenommen, und es ist oft schwer, sich von dieser Voreingenommenheit zu lösen. Das Ergebnis kann die bloße Illusion eines erfolgreichen Verständnisses sein, wie in unserer Erhebung sehr deutlich wurde.
Emotionalität
Emotionen spielten in unserer Erhebung eine große Rolle. Typisch die Äußerung einer Versuchsperson:
„Man hat ja vorher schon Angst vor solchen Texten. Man denkt: Hoffentlich verstehst du das alles.“
Manche Probanden wiesen auf die besondere Situation vieler älterer Menschen hin, die in einem „besonderen seelischen Spannungsfeld leben“ und darum die Informationen rasch und problemlos verstehen möchten. Die Reaktionen reichten bis hin zur Totalverweigerung:
„Ist mir zu lang, zu unverständlich. Ich weigere mich, die Sätze zu verstehen.“
Selbstwertprobleme
Bei der Erörterung des Problems „Sprachverständlichkeit“ werden selten die psychischen „Kosten“ berücksichtigt. In all unseren Untersuchungen hat sich jedoch gezeigt, dass schwer verständliche Texte zu Vorstellungen von eigenem Versagen führen und damit selbstbildbeschädigend wirken können.
Folgen mangelnder Verständlichkeit
Die Finanzmarktkrise hat nur verstärkt, was in der Bevölkerung latent vorhanden war: ein tiefes Misstrauen gegenüber Banken und Versicherungen. Manipulation, Verschleierung, Übervorteilung und Betrug sind die von unseren Versuchsteilnehmern am häufigsten genannten Stichworte.
Da gibt es keinen Zweifel: Solche Vorstellungen über die Arbeit von Banken und Versicherungsunternehmen aufgrund einer schwer verständlichen Sprache sind einem nachhaltigen Geschäftserfolg abträglich. Schon aus diesem Grunde ist es ein schieres Gebot des Eigennutzes, im Umgang mit den Kunden für eine gut verständliche, transparente Sprache Sorge zu tragen. Das gilt für die Werbung, aber auch für alle anderen Instrumente der Kundenkommunikation, ganz besonders für die Allgemeinen Geschäfts- bzw. Versicherungsbedingungen.
Es gibt für Banken und Versicherungen, aber auch für die Wirtschaft insgesamt, „handfeste“ Gründe, die Sprachverständlichkeit ihrer Kundeninformationen zu verbessern:
- Wer einen Kunden ansprechen will, muss ihn überzeugend ansprechen, nämlich klar und verständlich. Der Kunde will nicht in der Versicherungs- oder Banken-Fremdsprache angesprochen werden, sondern in seiner „Muttersprache“ . Die Unternehmen sollten deshalb nicht „versicherisch“ oder „bankisch“ sprechen und schreiben, sondern „laiisch“ bzw. „kundisch“!
- Internetforen, Blogs und Podcasts verbreiten Informationen über Firmen und Produkte in zunehmender Geschwindigkeit. Mit erheblichen Folgen für das Firmen-Image, positiv wie negativ.
- Verbraucherverbände und Verbraucherinitiativen reagieren mit immer mehr Kritik und „Aktionen“ auf eine unzugängliche Sprache.
- Testinstitute und Rating-Agenturen überprüfen zunehmend die Produkte und die Dienstleistungsqualität von Unternehmen. Wenn erst einmal ein Versicherungsunternehmen in seiner Kommunikationsqualität negativ beurteilt wurde, tritt ein Imageschaden ein, der längerfristig Nachteile mit sich bringt (vgl. zum Beispiel die Untersuchungen von FINANZtest).
- Die Gerichte entscheiden mehr und mehr zugunsten der Verbraucher: „Bei unklaren oder mehrdeutigen Klauseln gilt im Zweifel das Prinzip der den Verbraucherinnen und Verbrauchern günstigen Auslegung, da der Aufstellende solcher Bedingungen sich klarer hätte ausdrücken können und müssen“ (Justizministerium NRW). Der Fall verschiedener Unternehmen zeigt, dass diese in gerichtlichen Auseinandersetzungen aus sprachlichen Gründen unterliegen können und dadurch (erhebliche) Kosten entstehen, die vermeidbar sind.
- Eine laienverständliche barrierefreie Kommunikation ist ein bedeutsamer Teil der Corporate Identity des Unternehmens und ein ebenso wichtiges Instrument der Markenpflege.
Deshalb: eine klare und gut verständliche Sprache ist kein „Nice to have“ und auch kein unnötiger Kostentreiber. Sie ist Ausdruck eines neuen und mächtigen Trends in unserer Gesellschaft: sie erspart nachweislich beachtliche zeitliche und finanzielle Ressourcen, sendet den Kunden ein bedeutsames Signal der Akzeptanz und ist eine Investition in eine nachhaltige Zukunft des Unternehmens.
Hinweis
Weitere Auskünfte zu der Studie (ca. 125 Seiten) oder Bestellungen über
Tel. +49 (0)5307-7577 oder zimm@linguaetmedia.de
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