Anforderungen an die Lösung sammeln und erfassen

Oft gibt es einen Anlass oder Grund dafür, dass ein Vorhaben gestartet und dafür ein Lastenheft erstellt werden soll. Beispiele sind:

  • Ein Fachbereich wünscht sich eine (bessere) IT-Unterstützung für die Bearbeitung von Aufgaben und für Prozessabläufe.
  • Gesetzliche Änderungen machen es notwendig, dass Prozesse und IT-Lösungen angepasst werden.
  • Eine Maschine ist nicht mehr wirtschaftlich nutzbar; sie soll durch eine moderne Maschine ersetzt werden.
  • Aufgrund des Wachstums des Unternehmens soll in neue Gebäude und Einrichtungen investiert werden.
  • Das Unternehmen will Kosten sparen und deshalb ausgewählte Aufgaben und Prozesse verlagern oder neu gestalten.

Aus solchen Anlässen leiten sich die Vorhaben und Projekte ab, die das Unternehmen zur Lösung angehen will. Und daraus leiten sich dann die Anforderungen oder Features ab, die erfüllt sein müssen oder sollten. Sie sind Grundlage für die einzelnen Lösungsanforderungen und Leistungskriterien, die im Lastenheft benannt und beschrieben werden.

Nutzer, Betroffene und andere Stakeholder befragen

Um die Anforderungen zu ermitteln, müssen sich die betroffenen Fachbereiche einbringen. Die Nutzer und die vor Ort betroffenen Personen müssen sagen und formulieren, was sie benötigen. Diese Anforderungen werden meistens im Rahmen von Prozessanalysen und gemeinsamen Workshops erarbeitet und festgelegt.

Zudem können weitere Personen oder Gruppen in diese Befragung einbezogen werden, wenn sie ein Interesse an der Lösung haben oder andere Beiträge dazu leisten können. Das sind Stakeholder für das Vorhaben. Welche Informationen und Anforderungen sie für das Lastenheft beisteuern, ergibt sich aus deren Fachwissen, Rolle, Aufgaben und aus dem Thema und Vorhaben selbst.

Methoden, um Anforderungen aus Sicht der Nutzer, der Betroffenen und der Stakeholder zu ermitteln, sind:

  • Kreativitätstechniken zum Sammeln
  • Beobachtungen vor Ort
  • Befragungen der betroffenen oder interessierten Personenkreise
  • Workshops mit den Nutzern, Betroffenen und Stakeholdern

Aus User Storys Anforderungen ableiten

Wenn Nutzer und Betroffene ihre Anforderungen formulieren sollen, tun sie dies meist aus der Sicht ihrer eigenen Situation. Sie beschreiben ihre Aufgaben, Tätigkeiten und einzelne Abläufe. Das sind sogenannte User Storys, die dann in Anforderungen mit Bezug zum Vorhaben übertragen werden müssen. Dazu werden die User Storys auf Story Cards festgehalten.

Vergleichbar mit den User Storys sind auch die sogenannten Use Cases. Mit Ihnen werden alle Anwendungsfälle, Tätigkeiten und Abläufe beschrieben, die ein Nutzer durchführt oder durchführen will. Sie werden gesammelt und formuliert in der Form: Nutzer (Subjekt) … tut (Prädikat) … an … mithilfe … für … (Objekte).

Beispiel für eine User Story ist:

„Der Kunde pflegt online seine Kontaktdaten. Dazu will er schnell erkennen, wo er Änderungen durchführen kann. Nach dem Einloggen kann er seine E-Mail-Adresse sowie die Postadresse ändern. Dabei müssen die Anforderungen der DSGVO beachtet werden.“

Solche User Storys und Use Cases werden zu Anforderungen, Funktionen, Leistungsmerkmalen oder Features zusammengefasst (Feature Request).

Dokumente auswerten, Systeme prüfen und Kenngrößen berechnen

Zusätzlich zur Befragung von Betroffenen ist es oft notwendig, Dokumente auszuwerten oder Analysen und Berechnungen durchzuführen. Je nach Anlass und Vorhaben werden die relevanten Dokumente geprüft im Hinblick darauf, welche Ergebnisse und Lösungen ein Vorhaben letztlich haben muss.

Zum Beispiel werden Gesetze, Richtlinien, Verwaltungsvorschriften oder Normen Punkt für Punkt geprüft und ausgewertet. Die Anforderungen, die so identifiziert werden, sind Grundlage für die Anforderungen an das Vorhaben. Ein Beispiel ist die Umsetzung der Anforderungen aus der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) im Jahr 2018.

Eine weitere Quelle für Anforderungen sind die bislang eingesetzten Lösungen und Systeme oder Lösungen, die am Markt verfügbar sind. Sie können überprüft, analysiert oder getestet werden. Dabei helfen Messebesuche, Demos oder Produktbeschreibungen.

Oft spielen Mengen, Abmessungen oder Gewichte eine Rolle, um Anforderungen genau festzulegen. Dazu wird gemessen, geschätzt oder berechnet. Voraussetzung ist, dass die Berechnungsmodelle bekannt sind. Beispiele sind: Anzahl der Nutzer eines Systems, Anzahl der Datensätze, die verarbeitet werden sollen, Höhe einer Toreinfahrt, Durchlaufzeiten für Prozesse etc.

Anforderungen bewerten und Lösungsvorgaben festlegen

Wenn die Nutzer eines Produkts und die Betroffenen eines Vorhabens sagen, welche Anforderungen, Erwartungen und Wünsche sie haben, kann eine lange Liste entstehen. Alle Punkte auf dieser Liste müssen dann geprüft und bewertet werden im Hinblick auf:

  • Sind die Anforderungen technisch realisierbar?
  • Lassen sie sich organisatorisch umsetzen?
  • Sind sie rechtlich zulässig?
  • Passen sie zu den technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen und zu den angrenzenden Systemen?
  • Gibt es zwischen einzelnen Anforderungen Widersprüche oder Konflikte?
  • Wie hoch sind die Kosten für die Realisierung?
  • Welche Vorteile bringen sie für den Nutzer, die Betroffenen und das Unternehmen?
  • Welche Nachteile sind mit den Anforderungen für den Nutzer, die Betroffenen und das Unternehmen verbunden?
  • Müssen sie aus rechtlicher Sicht umgesetzt werden?
  • Gibt es weitere Gründe, zum Beispiel Vereinbarungen, Verpflichtungen oder Zusagen, weswegen sie umgesetzt werden müssen?
  • Was geschieht, wenn die Anforderung nicht realisiert oder erfüllt wird?

Prioritäten festlegen

Anhand dieser Fragen und ihren Antworten werden Bewertungskriterien definiert. Diese werden dann auf alle Anforderungen, Erwartungen und Wünsche angewendet. Daraus ergeben sich Prioritäten für die Anforderungen an eine Lösung, die im Lastenheft als solche auch benannt werden. Mögliche Prioritäten sind:

Must-have-Anforderungen

Sie müssen in jedem Fall und vorrangig realisiert werden.

Priorität A-Anforderungen

Sie sollten realisiert werden, weil sie große Vorteile mit sich bringen und die Realisierung wirtschaftlich ist.

Priorität B-Anforderungen/ Nice-to-have-Anforderungen

Sie können realisiert werden, weil die Vorteile die Kosten und Nachteile überwiegen.

Alle weiteren Anforderungen, Erwartungen und Wünsche auf der Liste werden nicht realisiert und nicht weiter betrachtet. Sie werden im Lastenheft nicht behandelt – sondern gegebenenfalls explizit ausgeschlossen. Die Nutzer und die Betroffenen können bei Bedarf darüber informiert werden, warum diese Anforderungen nicht berücksichtigt werden.

Anforderungen im Lastenheft benennen und exakt beschreiben

Die ausgewählten Anforderungen werden in den Anforderungskatalog und den Leistungsteil des Lastenhefts übernommen. Sie werden dort so genau wie notwendig, aber so offen wie möglich formuliert, damit ein Anbieter die Möglichkeit hat, über das optimale „Wie“ der Realisierung selbst zu entscheiden.

Gleichwohl muss das, was im Lastenheft aufgeschrieben wird, exakt und eindeutig sein. Dafür gibt es unterschiedliche Modellsprachen wie Unified Modeling Language (UML), die voraussetzen, dass die Anwender sie beherrschen.

In den meisten Fällen ist es hilfreich, Anforderungen in natürlicher Sprache zu formulieren. Dann muss beachtet werden, dass die Formulierungen folgende Kriterien erfüllen:

  • Ein Satz entspricht einer Anforderung.
  • Ein Sachverhalt wird mit nur einem eindeutigen Begriff bezeichnet.
  • Ein Satz muss vollständig sein.
  • Ein Satz muss einen einfachen, klaren Aufbau haben: Subjekt – Prädikat – Objekt; keine Schachtelsätze und keine Nominalisierungen.
  • Sätze müssen W-Fragen beantworten: wer, wann, wo, was, wie (viele).
  • Sätze sollten im Aktiv formuliert sein.
  • Das Verb sagt, worum es bei der Anforderung im Kern geht.

Es gibt eine Reihe von „Satz-Formulierungs-Methoden“, die dabei helfen sollen, dass die Formulierungen im Lastenheft auch in natürlicher Sprache nicht schwammig, ungenau oder widersprüchlich sind. Eine Methode ist die sogenannte MASTER-Schablone der Sophist GmbH.

Tipp

Anforderungen nach der SOPHIST-Satzschablone formulieren

Mit der sogenannten SOPHIST-Satzschablone können Sie Anforderungen im Lastenheft vollständig, korrekt, exakt und nachvollziehbar formulieren. Dazu werden funktionale Anforderungen in vollständigen Sätzen nach folgender Regel aufgebaut (Quelle: Master, die Sophisten Schablonen für alle Fälle, 2016):

(1) wann/ unter welcher Bedingung
(2) mit welcher Verbindlichkeit (muss, sollte, wird)
(3) wer/ mit welchem System (Name)
(4) wem/ was/ welchem Prozess oder Anwender
(5) was/ welchem Objekt oder Gegenstand
(6) getan/ gemacht/ ausgeführt

Beispiel: (1) Bei der Eingabe der Daten (2) muss (3) die Webseite XY (4) dem Benutzer (5) die in jedem Fall auszufüllenden Felder (6) deutlich sichtbar anzeigen.

Rahmenbedingungen klären

Im nächsten Schritt müssen Sie klären, welche Rahmenbedingungen mit Ihrem Projekt, dem Produkt oder dem Vorhaben eingehalten werden müssen. Diese Rahmenbedingungen ergeben sich aus gesetzlichen Anforderungen, die für die Anwendung relevant sind.

Sie müssen also prüfen, mit welchen rechtlichen Aspekten Ihr Vorhaben in Berührung kommen kann. Dafür brauchen Sie Know-how in Bezug auf die technische Lösung und in Bezug zu unterschiedlichen Rechtsgebieten. Im Zweifel müssen Sie dazu Fachanwälte und Techniker zusammenbringen.

Außerdem leiten sich die Rahmenbedingungen für das Lastenheft ab aus:

  • physikalischen, chemischen und anderen technischen Notwendigkeiten
  • Schnittstellen zu angrenzenden Systemen
  • Organisation und Prozesse in angrenzenden Bereichen
  • Zielen, Strategien und anderen Vorhaben im Unternehmen, die davon betroffen oder damit verknüpft sind

Halten Sie alle Anforderungen und Notwendigkeiten in Ihrem Lastenheft fest, soweit sie sich aus diesen Aspekten ergeben.

Formale Vorgaben zusammenstellen

Schließlich sollten Sie klären, welche Anforderungen Sie im Lastenheft aus formaler Perspektive nennen sollten oder wollen. Diese Anforderungen ergeben sich meist aus dem Projekt oder Vorhaben selbst. Die im Lastenheft beschriebene Lösung ist beispielsweise Teil eines Projektablaufs, eines Produkts oder eines strategischen Vorhabens.

Aus diesen leiten sich Anforderungen ab in Bezug auf:

  • Liefertermin
  • Lieferort
  • Art der Lieferung
  • notwendige Tests
  • Sicherheitsanforderungen
  • Dokumentationen
  • Nutzungsrechte
  • Gewährleistungen

Zudem ergeben sich formale Vorgaben aus Gründen der Wirtschaftlichkeit oder sie resultieren aus dem zuvor erstellten Business Case, dem Projektantrag oder den Marktpreisen (für ein Produkt). Sie müssen also klären und festhalten:

  • Budgetvorgaben
  • Vorgaben zur Wirtschaftlichkeit
  • Zahlungsbedingungen

Legen Sie fest, welche Geschäftsbedingungen, Gewährleistungen oder Compliance-Anforderungen (Stichwort Lieferkettengesetz) beachtet werden müssen.

Worauf Sie beim Erstellen eines Lastenhefts außerdem achten sollten

Wenn Sie die Anforderungen zu Ihrem Vorhaben, zum Produkt oder zum Projekt für Ihr Lastenheft zusammenstellen und diese als Anforderungskriterien festlegen, sollten Sie außerdem folgende Aspekte beachten:

Alle Nutzer und Betroffenen fragen

Ermitteln Sie die Anforderungen der Nutzer und Betroffenen vollständig. Schließen Sie einzelne Nutzer oder Nutzergruppen nicht aus. Sehen Sie alle Beiträge der Betroffenen als relevant an und schätzen Sie diese. Erst nach der Analyse und Bewertung erfolgt eine Auswahl. Die Gründe für die Auswahl können den Nutzern und Betroffenen erläutert werden.

Viel Visualisieren

Visualisieren Sie Anforderungen, Rahmenbedingungen und ihre Zusammenhänge. Meistens eignen sich dafür Prozessdarstellungen, Systemdarstellungen oder technische Zeichnungen.

Aus Einzelwünschen allgemeine Anforderungen ableiten

Machen Sie aus den Anforderungen, Erwartungen und Wünschen der Nutzer und der Betroffenen, den User Storys, Systemanforderungen oder übergreifende, verallgemeinerte Anforderungen. Formulieren Sie also die Anforderungen im Hinblick auf das Vorhaben, Produkt oder Projekt.

Mögliche Tests vorausdenken (Definition of Done)

Leiten Sie aus den Anforderungen auch Testkriterien ab. Diese zeigen, ob und wie die Anforderung letztlich vom Anbieter und Entwickler realisiert wird und wie gut das Ergebnis ist. Definieren Sie gegebenenfalls Testfälle und Testverfahren oder benennen Sie dafür relevante Normen.

Vorsicht vor nachträglichen Änderungen

Kontrollieren Sie nachträglich formulierte Anforderungen (Change Requests). Auch nachdem das Lastenheft erstellt ist, können Nutzer, Betroffene oder andere interessierte Personen nachträglich Anforderungen stellen. Das macht ein Vorhaben oft schwierig, treibt die Kosten in die Höhe und verzögert die Durchführung. Diese Folgen müssen Sie dann benennen und deutlich vermitteln. Führen Sie eine Change-Impact-Analyse durch. Lehnen Sie nachträgliche Anforderungen ab, soweit das geht, oder greifen Sie diese für zukünftige Versionen auf.

Es braucht umfassendes Fachwissen und Erfahrung, um alle Zusammenhänge, alle technischen, organisatorischen und rechtlichen Aspekte zu ermitteln, zu bewerten und im Lastenheft richtig zu formulieren. Binden Sie deshalb die entsprechenden internen und externen Experten ein, wenn Sie ein Lastenheft erstellen.

Informieren Sie sich ausreichend, nehmen Sie Schulungen und Weiterbildungen wahr. Vergleichen Sie, wie andere Unternehmen vorgehen.

Hinweis

VDI-Richtlinie 2519

In der VDI-Richtlinie 2519 wird die Vorgehensweise bei der Erstellung eines Lasten- und Pflichtenheftes für Materialflusssysteme und Automatisierungssysteme erläutert. Dort finden Sie auch Kriterien, um die Qualität von Lasten- und Pflichtenheften zu beurteilen.

Praxis

Erstellung von Lastenheften planen

Entwickeln Sie einen Plan, wie Sie vorgehen wollen, um Ihr Lastenheft zu erstellen und zu formulieren. Sammeln und bewerten Sie:

  • alle Anforderungen, Erwartungen und Wünsche der Nutzer und der Betroffenen Ihrer Lösung
  • Rahmenbedingungen und formale Anforderungen an die Lösung

Zerlegen Sie dazu die Aufgabenstellung, für die Sie ein Lastenheft entwickeln. Also das Bauteil, das Sie beschaffen sollen, das Projekt, das Sie durchführen wollen, die Maschine, die beschafft werden soll, das IT-System, das entwickelt werden soll etc.

Nutzen Sie Methoden für die Problem- und Aufgaben-Zerlegung wie Quality Function Deployment (QFD), Black-Box-Analyse oder Analytic Hierarchy Process (AHP).

Formulieren Sie damit die Anforderungen, die Ihre Lösung erfüllen muss und die wünschenswert sind – so detailliert wie nötig und so grob wie möglich. Gehen Sie, wenn möglich, nicht in die Details, sondern stellen Sie die Ziele und Ergebnisse heraus, die Sie erreichen wollen.

Nutzen Sie für das Sammeln und Bewerten der Anforderungen und Kriterien für Ihr Lastenheft die folgenden Vorlagen.

Wenn Sie das Lastenheft in einem Team aus Fachleuten erstellen, können Sie einen oder mehrere Workshops durchführen. Für die Workshop-Planung können Sie die folgende Vorlage nutzen.

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