FührungVom Mittelstand in den Konzern – was ändert sich für Führungskräfte?
Deutschland ist das Land des Mittelstands. Über 99 Prozent der Unternehmen gehören zu den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Viele dieser Unternehmen gibt es schon mehr als 150 Jahre und sie florieren noch heute.
Allerdings wird es für „Einzelkämpfer“ durch den gesellschaftlichen und technologischen Wandel immer schwieriger, erfolgreich zu bleiben. Deshalb werden mittelständische Unternehmen häufig an internationale Konzerne verkauft.
Dann ändert sich für die Führungskräfte einiges im Unternehmen.
Neben neuen Reporting-Wegen, einer veränderten Governance und neuen Richtlinien verändert sich auch die Unternehmenskultur. Manchmal kommen solche Veränderungen über Nacht, häufig passiert das langsamer, Schritt für Schritt.
Was Führungskräfte im KMU leisten
In mittelständischen Unternehmen sind Führungskräfte häufig die besten Fachexperten. Je nach Einsatzgebiet kennen sie die Anforderungen der Kunden, Lieferanten oder des Managements sehr gut. Sie sind perfekt darin, Probleme zu lösen.
Diese Führungskräfte sind ein Segen für ihr Team:
- Sie übernehmen die „schwierigen Fälle“,
- springen ein, wo jemand fehlt,
- treffen die richtigen Entscheidungen oder
- führen die Entscheidungen im Management herbei, die das Team braucht.
Und: Sie wissen ganz genau, was im Team läuft.
Was Führungskräfte im Großkonzern leisten sollen
Was vielen Führungskräften nicht gesagt wird: Ihre Aufgabe verändert sich drastisch.
Denn im internationalen Konzern sieht es ganz anders aus:
- Die Zentrale macht Vorgaben, die vor Ort auf den ersten Blick wenig Sinn ergeben.
- Entscheidungswege werden länger, ebenso die Berichtslinien.
- Die zentralen Aufgaben im Unternehmen sind vielleicht auf diverse Service-Center in verschiedenen Ländern verteilt.
- Die Beteiligten kennen sich nicht mehr persönlich und
- sie sprechen unterschiedliche Sprachen.
Kurz: Die Welt wird komplizierter, Entscheidungswege länger und der Abstimmungsbedarf größer.
Obwohl die Führungskräfte immer noch die Schnittstelle zwischen ihrem Team und dem Unternehmen sind, verlagert sich ihr Aufgabenschwerpunkt: Sie können Vieles nicht mehr „einfach so“ machen, weil es aus ihrer Sicht richtig ist.
Vielmehr müssen sie lernen, die Konzernwelt mit ihrer ganz eigenen Logik, ihren Regeln und Gesetzen zu verstehen und diese Informationen an ihre Teammitglieder weiterzugeben. Dabei sollen die Mitarbeitenden nicht unsicher werden und die Motivation verlieren.
Das bedeutet: Die Führungskräfte müssen
- mehr Zeit investieren in Information, Koordination und Abstimmung,
- die Logik und die Regeln im Konzern verstehen lernen,
- sich von der Lösung operativer Aufgaben im Tagesgeschäft verabschieden,
- ihr Fachwissen nutzen, um Konzernentscheidungen so zu beeinflussen, dass sie zu den Bedürfnissen vor Ort passen.
Beispiel: Der Übergang des erfolgreichen Abteilungsleiters Matthias K.
Matthias K., 42 Jahre, arbeitet in einem Unternehmen, das spezielle Bauteile für große Maschinen herstellt. Nach dem Studium war er froh, diesen guten Job gefunden zu haben, denn es ist einer der größten Arbeitgeber in seinem Heimatort. Inzwischen ist er Abteilungsleiter.
Noch bis vor vier Jahren führte die Inhaberfamilie das Unternehmen in vierter Generation. Dann verkaufte sie es an einen britischen Konzern.
Zunächst änderte sich nichts. Die neuen Besitzer kamen ab und zu vorbei, schauten sich um, sprachen mit der Geschäftsführung und reisten wieder ab.
Plötzlich ändert sich Vieles
Seit einigen Wochen aber geht es Schlag auf Schlag: Das ERP-System soll ausgetauscht werden, das Konzernmanagement fragt nach Reportings, Matthias hat regelmäßige Meetings mit allen Bereichsleitern seiner Sparte aus dem Konzern.
Einerseits freut sich Matthias K. über den frischen Wind im Unternehmen, andererseits sind ihm die Veränderungen nicht ganz geheuer.
Das bisherige ERP-System wurde erst vor drei Jahren mit großem Aufwand komplett neu eingeführt und inzwischen läuft es richtig gut. Außerdem nervt ihn der riesige Zeitaufwand für die ganzen Reportings und Meetings.
Welche Folgen das hat
Matthias ist total gestresst und macht viele Überstunden. Er will unbedingt vermeiden, dass seine eigentliche Arbeit liegen bleibt.
Nach vier Monaten häufen sich Bemerkungen anderer Abteilungsleiter, ob bei ihm alles in Ordnung sei. Er weiß gar nicht, was in seiner Abteilung eigentlich los ist. Zu den regelmäßigen Abstimmungsrunden kann er schon lange nicht mehr gehen und seine Leute schauen auch nicht mehr rein. Sie sagen: „Du bist ja eh nie da, wenn man Dich braucht!“
Stattdessen bekommt er immer neue Anforderungen aus England: „Wie macht Ihr dies?“ „Wir brauchen jetzt das!“ – Er sagt zu seiner Frau: „Ich fühle mich wie ein Spielball, der dauernd hin- und hergeschubst wird, ohne dass mal ein Tor fällt.“
Nach 18 Monaten ist Matthias richtig frustriert:
- Die Verwaltungsprozesse werden immer länger.
- Er bekommt keine Entscheidungen, obwohl er dauernd nachfragt.
- Der Arbeitsaufwand wächst, obwohl schon einige Aufgaben in England zentralisiert worden sind.
Die Ursachen erkunden
Jetzt muss endlich mal etwas passieren.
Matthias weiß: Allein kommt er aus dieser Zwickmühle nicht heraus. Er bittet HR um ein Coaching. Der Coach schaut sich mit ihm zusammen all seine Aufgaben an, um zu verstehen, was im Moment falsch läuft.
Außerdem betrachten sie die Beziehungen zu seinen Ansprechpartnern. Als sie das Netzwerk gemeinsam aufzeichnen, sieht Matthias erstmal, wie viele das sind, wenn man alle Standorte einbezieht.
Kein Wunder, dass es so zeitaufwendig ist, mit ihnen in Kontakt zu bleiben.
Es braucht neue Lösungen
Im Coaching beschließt er, für ein paar Tage nach England zu reisen. Dort will er sich mit allen wichtigen Ansprechpartnern persönlich zusammensetzen, um sie besser kennenzulernen. Er will dort die Themen platzieren, die ihm und seinem Team das Leben so schwer machen.
Mit seinen Leuten bereitet er die Reise gut vor: In verschiedenen Meetings erarbeiten sie, was sie von wem in England brauchen, um in Zukunft erfolgreich arbeiten zu können.
Matthias ist zwar nicht ganz sicher, ob die Initiative erfolgreich sein wird, aber er will es versuchen.
Was dann passiert
In England wird er herzlich empfangen. Die Kollegen freuen sich, dass er gekommen ist. Sie hören sich seine Ideen an, diskutieren sie konstruktiv, und Matthias merkt, dass sie froh sind über seinen Input.
Für die Engländer ist es letztlich genauso wichtig wie für ihn, dass seine Abteilung vernünftig funktioniert.
Matthias ist erleichtert. Wenn er zurück ist, will er mit seinen Leuten noch weiter an den Konzepten feilen, die er in England besprochen hat. Er versteht die Anforderungen der Zentrale jetzt viel besser und will in seinem Team die Aufgaben anders verteilen.
Er sieht,
- dass er sich mehr aus dem Tagesgeschäft verabschieden muss,
- um die Kontakte in den verschiedenen Standorten zu pflegen und
- um die Entscheidungen herbeizuführen, die sein Team braucht, um gute Arbeit abliefern zu können.
Zu Hause sagt er seiner Frau: „Es macht mir jetzt richtig Spaß, in dem internationalen Team mitzuspielen und strategisch die Fäden zu ziehen. Das hätte ich gar nicht gedacht!“
Was können Führungskräfte tun, um die Fäden in der Hand zu behalten?
Wenn die Welt um einen herum auf einmal viel größer ist als bisher, müssen die Führungskräfte ihre bisherigen Aufgaben auf den Prüfstand stellen und sich im Konzern positionieren.
Hier geht es nicht nur um die formale Position in der Hierarchie, sondern darum, wie man den eigenen Standpunkt gegenüber den Ansprechpartnern vertritt.
Folgendes ist zu beachten:
- Führungskräfte müssen komplexe Zusammenhänge und ihre Einflussmöglichkeiten erkennen sowie bereichsübergreifend im Sinne des Konzerns denken.
- Führungskräfte brauchen einen klaren Standpunkt, damit sie die Interessen ihres Teams im Konzern erfolgreich vertreten können.
- Führungskräfte müssen Kontakte in alle Teile des Konzerns knüpfen und nutzen, idealerweise die relevanten Kontaktpersonen persönlich kennenlernen.
- Führungskräfte sollten sensibel sein für die Interessen ihres Gegenübers und für kulturelle Unterschiede, um erfolgreich mit den neuen Counterparts und Entscheidern zu kommunizieren.
- Führungskräfte brauchen die Fähigkeit, sich international Gehör zu verschaffen und Entscheider von ihrem Standpunkt zu überzeugen, unabhängig von ihrer Position in der Hierarchie.
- Führungskräfte brauchen ein gutes Selbstbewusstsein, damit sie auch in unsicheren Situationen selbstsicher bleiben, die richtigen Prioritäten setzen und souverän handeln können.
- Führungskräfte müssen sich bewusst machen, was ihr Team von ihnen braucht, um weiterhin effizient und produktiv sein zu können. Dazu gehört unbedingt, die „neue Welt“ und die neuen Anforderungen zu erklären, damit das Team die Veränderungen nachvollziehen kann und sich sicher fühlt.
- Führungskräfte müssen ihre Aufgaben im Tagesgeschäft abgeben und gegebenenfalls die Teammitglieder dazu befähigen, selbstständig zu arbeiten.
- Führungskräfte sollten angesichts der großen Herausforderungen, die in so einer Veränderung stecken, Unterstützung wie Coachings oder Trainings einfordern und sich mit anderen Führungskräften austauschen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden.
Fazit: Führung im Konzern kann eine spannende Herausforderung sein
Der Wandel vom Mittelstand in den Konzern ist für viele Führungskräfte ohne Frage anspruchsvoll. Es kann aber eine spannende und lohnende Entwicklungsaufgabe sein.
Um nicht zum Spielball zu werden, müssen die Führungskräfte sich bewusst machen, wie die neuen Anforderungen an ihre Position aussehen. Sie müssen eine klare Vorstellung davon entwickeln, wie sie die neuen Anforderungen erfüllen können.
Durch den Aufbau und die Pflege eines guten Netzwerkes gewinnen sie Einfluss und können die richtigen Entscheidungen herbeiführen.
Für die neuen Aufgaben brauchen sie genug Zeit. Daher ist es wichtig, die Fachaufgaben im Team zu verteilen und sich auf die Führungs- und Koordinationsaufgaben zu konzentrieren.
Wenn es den Führungskräften gelingt, sich strategisch einzubringen und sich vom operativ starken Mittelstandsleiter zum strategisch wirksamen Konzernmanager zu entwickeln, profitiert das gesamte Team und das gesamte Umfeld.


